Kontrollverlust - Kontrollverlust
aufweichen, Folie hin oder her. Die Tinte würde verlaufen, und er hätte alle Mühe, überhaupt noch etwas zu entziffern. Aber andere trugen ja ebenfalls Fotos ihrer Partner oder Kinder in ihren Brieftaschen herum.
Jerome hatte nie von ihr erzählt, weder in seinen Mails noch in den Telefonaten, die sie zwei- oder dreimal im Jahr geführt hatten. Warum meldete sie sich jetzt, über zehn Jahre nach seinem Tod? In ihrem langen Begleitbrief hatte sie behauptet, erst durch Zufall so spät von seinem Absturz erfahren und sich auf die Suche nach Angehörigen gemacht zu haben. Toni glaubte ihr nicht. Die Geschichte war damals in den USA durch alle Medien gegangen. Und warum hatte sie Jeromes Post so lange aufgehoben, wenn damals nichts zwischen den beiden gelaufen war? Vor vier Wochen hatte sie Toni das Päckchen nach Deutschland geschickt, sechsundsiebzig Briefe, die Jerome über einen Zeitraum von anderthalb Jahren geschrieben hatte, jede Woche einen, mit der Präzision eines Uhrwerkes. Seit einem Monat zelebrierte Toni jeden Abend zu Hause das gleiche Ritual: Er setzte sich an seinen Küchentisch, schnitt die Folie auf, nahm einen der Briefe heraus und las ihn. Nach der Lektüre steckte er ihn wieder in den Umschlag, legte ihn zurück auf den Stapel und schweißte das Päckchen wieder in eine Folie, geschützt für den nächsten Arbeitstag. Diese Texte zu lesen, war, als spräche die Stimme seines Halbbruders noch einmal aus dem Jenseits zu ihm, und er wusste, wenn er den letzten Brief studiert hatte, würde diese Stimme für immer schweigen.
Sie arbeitete in der Bibliothek des New York Institute of Technology in Old Westbury, Jerome hatte sie dort während seines Studiums kennengelernt. Toni hatte sie angerufen, als er das Päckchen erhielt, aber sie hatte ihm nicht viel mehr erzählen können als das, was in ihrem Begleitbrief stand. Sie und Jerome hatten sich angefreundet, waren ab und an ausgegangen. Als sie gemerkt hatte, dass Jerome Gefühle für sie entwickelte, war sie auf Distanz gegangen. Aber Jerome hatte versucht, den Kontakt aufrechtzuhalten, sie immer wieder in der Bibliothek besucht und zum Essen eingeladen. Und sie hatte immer wieder abgelehnt. Aber er war nie gekränkt über ihre Ablehnung, er machte einfach unbeirrt weiter. Dabei überschritt er nie die unsichtbare Linie, die die Grenze zwischen Flirt und Belästigung markierte. Er warb um sie, nachdrücklich und geradlinig, genauso, wie er seine Ausbildung zum Kampfpiloten durchexerziert hatte. Vielleicht hatte er einfach nicht anders gekonnt, dachte Toni. Vielleicht war es in Jerome angelegt gewesen, ein einmal verfolgtes Ziel nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Vielleicht war die Option zum Scheitern in ihm nicht verankert gewesen.
Seit seinem Universitätsabschluss im Jahr 1992 hatten sie sich ihrer Aussage nach nicht mehr gesehen. Damals hatte Jerome begonnen, ihr zu schreiben, und mit der gleichen Regelmäßigkeit rief er sie an, einmal im Jahr, am dritten Advent, um ihr schöne Weihnachten zu wünschen.
Sie hatte ihm nie geantwortet auf seine Briefe, und Toni hatte keinen Grund, ihr nicht zu glauben. In Jeromes Nachlass war kein einziger Hinweis auf sie, und in seinen Briefen nahm er niemals Bezug auf etwas aus ihrem Leben, das sich nach ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität abspielte. Obwohl der Kontakt also – abgesehen von den kurzen Telefonaten zum Jahresende – ganz und gar einseitig ablief, änderte sich der Stil seiner Texte allmählich. Er wurde von Woche zu Woche vertrauter, intimer, inniger. Jerome hatte sich da in etwas hineingesteigert, er schien ab einem gewissen Punkt davon auszugehen, dass beide eine gemeinsame Zukunft hatten, er schien überzeugt, sie würde mit ihm nach Deutschland kommen. Toni wurde die allabendliche Lektüre von Brief zu Brief unheimlicher.
Ein einziges Mal hatte sie ihm schließlich auf einen Brief geantwortet, Anfang Mai 1997. Sie hatte ihm mit einer Karte mitgeteilt, dass sie schwanger war und bald heiraten würde. Das war vier Wochen vor seinem Absturz.
Toni sah im Süden am Horizont die Jets auf den Frankfurter Flughafen einschweben. Hatte Jerome sich umgebracht? Wegen dieser Frau?
15
Der Azubi war süß. Ein schüchterner Schlacks mit blonden Locken und einem braun karierten Pullunder. Jedes Mal, wenn sie oder eine ihrer Kolleginnen ihn anflirteten oder etwas neckten, wurde er rot im Gesicht. Dass es so etwas im Youporn-Zeitalter noch gab – entzückend. Und
Weitere Kostenlose Bücher