Kontrollverlust - Kontrollverlust
spiegelten. Hinter jeder Waffe stand ein Soldat breitbeinig auf den Planken, hielt sich mit einer Hand an der Lafette fest und drehte mit der anderen unablässig an einer Kurbel, doch statt gemahlenem Kaffee stießen die Messingröhren unablässig Feuer, Lärm und Pulverdampf aus. Die Kutschen rauschten durch die Reihen der Indianer, die sich dem geballten Aufgebot an Platzpatronen ergaben und sich der Regieanweisung folgend reihenweise von den Pferderücken fallen ließen. Passend zur Wende auf dem Schlachttableau gewann Custer im Duell gegen Sitting Bull wieder Oberhand, drehte das Messer in dessen Hand und stieß es dem Indianerhäuptling in den Bauch.
Der kleine Jakob Brecker saugte jedes Detail des Geschehens in sich auf und fasste nach dem Triumph der Gerechten in der Arena einen Entschluss, mit der ganzen Ernsthaftigkeit und Endgültigkeit, die einem Achtjährigen zu Gebote stand. Er würde in die Fußstapfen des großartigen Buffalo Bill steigen und sein Leben der Herstellung von Recht und Ordnung widmen. So wurde Buffalo Bill zum Geburtshelfer einer bescheidenen Darmstädter Polizistendynastie.
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Seit einigen Wochen setzte Hoven Starttermine für Meetings nicht mehr auf volle Stunden an, sondern grundsätzlich auf fünf oder zehn Minuten vorher, und er bevorzugte für Besprechungen neuerdings den späten Vor- und Nachmittag. Rünz hatte eine Weile gebraucht, bis er hinter den Sinn dieser neuen Macke gekommen war. Hoven hatte seine stattliche Kollektion hochwertiger Armbanduhren um eine Millenary aus dem Hause Audemars Piguet bereichert, die über eine Grande Sonnerie verfügte. Zur vollen Stunde – also in der Regel genau dann, wenn sich alle Teilnehmer eingefunden und gesetzt hatten – schlug in diesem Meisterwerk Schweizer Uhrmacherkunst ein winziger Klöppel gegen ein ebenso filigranes Glöckchen und eine Reihe hauchzarter hoher ›Plings‹ markierte akustisch die aktuelle Tageszeit. Hoven schaute während des Gebimmels jedes Mal hoffnungsvoll in die Runde, als erwartete er geradezu, auf seine neue Errungenschaft angesprochen zu werden. Wer den Fehler dann beging, wurde mit einem halbstündigen Vortrag über Tourbillons, Komplikationen und ewige Kalender bestraft.
An Hovens Armbanduhren konnte man präzise ablesen, welche Welle er gerade ritt. Hatte er ein Jahr zuvor noch sein Selbstverständnis als leistungsorientierter Performer mit multifunktionalen High-Tech-Chronometern unterstrichen, so stand die gediegene Audemars nun für Qualität, Beständigkeit, Tradition und Nachhaltigkeit, repräsentierte also den gereiften, verantwortungsvollen und durch die Krise geläuterten Aufklärer.
Aber diesmal lief alles anders als geplant, weder Hoven noch die anderen Teilnehmer nahmen das kleine Glockenspiel überhaupt wahr. Hektik herrschte. Hoven hatte die Besprechung noch nicht formell eröffnet, er hantierte hektisch mit dem türkischen Kollegen von der IT-Abteilung an seiner neuesten technischen Eroberung herum, einem interaktiven Whiteboard. Hoven war richtig heiß darauf, der Staatsanwältin, die heute ebenfalls anwesend war, sein neues Gadget vorzuführen. Der Plan war einfach. Während Rünz und Wedel mit Simone Behrens im Besprechungsraum vor dem riesigen interaktiven Panel saßen wie die Schüler vor der Tafel, wollte Hoven die Kriminaltechnikerin Sybille Habich aus Wiesbaden und den Rechtsmediziner Robert Bartmann aus Frankfurt per Videokonferenz dazuschalten und simultan mit allerlei Beweismaterial – Tatortfotos, gescannten Dokumenten, Skizzen – auf dem Screen herumhantieren. Magic.
Im Nachhinein verfluchte Rünz die Anschaffung des Gerätes – ohne die Chance für eine Exklusivvorführung hätte Hoven die Sache mit dem Schlosser so wenig interessiert wie ein Taubenschiss. So kam leider etwas Drive in die Angelegenheit – und Rünz kam in Verzug mit seinem Vince-Stark-Plot.
Der Kommissar schaute in die Runde. Wedel saß gelangweilt mit verschränkten Unterarmen in einem viel zu engen Quiksilver-Shirt auf seinem Stuhl, starrte versonnen auf seinen Brustkorb und spannte zur Ablenkung abwechselnd den linken und rechten Pectoralis Major an.
Simone Behrens saß neben Rünz, Wedel direkt gegenüber. Sie trug einen kobaltblauen, überraschend tief ausgeschnittenen Overall mit Goldknöpfen, kirschroter Lippenstift bildete den Farbanker in ihrem vornehm blassen Gesicht. Es stimmte Rünz melancholisch, dass auch Frauen weit jenseits der Menopause den Drang verspürten,
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