Kontrollverlust - Kontrollverlust
ehrgeizig war er. Wollte alles ganz genau wissen, und alles möglichst perfekt machen. Mit achtzehn oder neunzehn ließ man sich ja noch mit Begeisterung ausbeuten. Er stand am Kopierer auf der anderen Seite des Raumes und vervielfältigte Handouts für ein Meeting. Sie konnte nicht widerstehen, ihm auf den Hintern zu starren. Vielleicht einen Moment zu lange.
»Kann ich Sie einen Moment stören, Frau Lebert?«
Eine süffisante Männerstimme schreckte sie auf. André Weiler stand neben ihr, der Typ, der für zwei Stunden Raum Drei gemietet hatte. Immer lächeln.
»Ja bitte, was kann ich für Sie tun, Herr Weiler?«
Er stützte eine Hand auf ihre Stuhllehne und die andere auf die Schreibtischplatte, beugte sich etwas zu ihr hinunter, ließ kurz einen Kontrollblick durch den Raum schweifen und senkte die Stimme, als hätte er ein anspruchsvolles und diskretes Anliegen, dessen Erledigung er nur ihr zutraute.
»Frau Lebert, ich habe jetzt gleich ein Meeting. Möglicherweise wird meine Frau gleich meinen Sohn vorbeibringen. Er hat heute Geburtstag, wissen Sie, und ich habe ihm eine Shoppingtour versprochen. Sollte ich mit meinem Kunden noch nicht durch sein, wenn die beiden kommen, wären Sie dann so lieb, ein paar Minuten auf den Kleinen aufzupassen? Meine Frau muss leider sofort wieder weg …«
»Kinderbetreuung ist nicht Bestandteil Ihrer vertraglichen Vereinbarung mit unserem Business Center, soweit ich weiß«, erwiderte sie lächelnd.
»Ist nur für ein paar Minuten«, beschwichtigte Weiler. »Und Kevin ist total pflegeleicht, Sie werden sehen. Das ist wirklich nett von Ihnen!«
Kevin! Auch das noch. Ein Sohn, der Kevin hieß, passte eigentlich perfekt zu diesem Blender. Jetzt nur nicht weichkochen lassen, Kunden- und Serviceorientierung hin oder her. »Tut mir wirklich leid, Herr Weiler, aber ich habe hier …«
»Ach, eine Frage können Sie mir vielleicht noch schnell beantworten«, unterbrach er sie, als wäre die Sache mit dem Babysitting schon geklärt. »Ihre Abteilung Customer Care hat mir diesen Fragebogen geschickt, Sie wissen schon, die Erhebung zur Kundenzufriedenheit. Wissen Sie, wo ich das Ding abgeben kann, wenn ich es ausgefüllt habe?«
»Mailen Sie das einfach retour«, sagte sie. »Das kommt schon an.« Sie rang sich ein weiteres Lächeln ab, diesmal mit großer Überwindung, und musterte gleichzeitig abschätzig sein Outfit. Ein monochromer Zwei-Knopf-Anzug über einem zweifarbigen Hemd mit schmaler, roter Strickkrawatte. So waren Männer von Format vor zwei Jahren herumgelaufen. Dieser Weiler roch förmlich nach Outlet-Center.
»Prima, vielen Dank für Ihre Kooperation, Frau Lebert«, lächelte Weiler großspurig und schlurfte wieder in seinen Besprechungsraum. Dieser Drecksack, dachte sie. Droht offen damit, mir eins reinzusemmeln. In diesen Erhebungsbögen konnten Kunden einzelne Mitarbeiter des Business Centers detailliert beurteilen. Eine miserable Bewertung würde man ihr spätestens beim nächsten Mitarbeitergespräch genüsslich aufs Brot schmieren. Die Themen Gehalt oder Beförderung brauchte sie in diesem Fall gar nicht mehr anzusprechen. In diesen Zeiten wurden Leute sogar gefeuert wegen solcher Beschwerden. Sie knirschte mit den Zähnen. Dieser Kevin konnte sich auf eine Sonderbehandlung gefasst machen.
Sie hatte Weiler erst zwei- oder dreimal hier im SkyRise an der Taunusanlage gesehen, aber schon öfter Telefonkorrespondenz für seine ›Public Consulting Group‹ erledigt. Weiler war kein Premiumkunde, er gehörte zu der Gruppe, die ihr Chef intern als ›Kleinvieh‹ bezeichnete. In der Summe waren Leute wie Weiler für den Umsatz des Business Centers nicht ganz unwichtig, aber jeder Einzelne von ihnen war so entbehrlich wie eine Mückenleiche auf der Windschutzscheibe. Es waren immer Nullnummern wie Weiler, die sich aufbliesen wie die Masters of the Universe. Wie giftige kleine Pudel.
Aber abgesehen von den unschönen Begegnungen mit solchen Aufschneidern liebte sie die Arbeit hier. Kein Vergleich mit dem stupiden Dienst im Callcenter, den sie zwei Jahre lang geleistet hatte. Im Callcenter lief am Telefon alles nach streng strukturierten Gesprächsleitfäden ab, die keinen Freiraum für Kreativität und Improvisation ließen. Hier aber musste sie nicht Achtzigjährigen Lebensversicherungen verkaufen oder deprimierten Hausfrauen Yellowpress-Abos andrehen. Hier war Timing entscheidend. Ein eingehender Anruf aktivierte auf ihrem Monitor nach einer Sekunde automatisch
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