Kontrollverlust - Kontrollverlust
Videoinstallation in einem Museum für zeitgenössische Kunst.
»Ähm, Herr Bartmann, könnten Sie uns die Abbildung vielleicht schnell scannen und hier aufs Whiteboard rüberspielen, so ist das etwas schwierig zu erkennen«, regte Hoven an.
»Ich soll WAS damit machen?«, fragte Bartmann entrüstet. »Wissen Sie, wie alt dieser Anatomieatlas ist? Das ist ein originaler Sobotta aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Den reißt mir jeder Antiquar aus der Hand!«
»Ich sprach nicht von ›schreddern‹, sondern von ›scannen‹», versuchte Hoven zu beschwichtigen.
Schreddern, scannen – das machte keinen Unterschied für den alten Rechtsmediziner. Er schien das alles für Teufelszeug zu halten. Rünz war er sympathisch.
Der Geist auf der Leinwand sprach weiter. »Die Läsion hat wahrscheinlich die nervale Versorgung der Blutgefäße gestört und ihre glatte Muskulatur gelähmt. Ohne Gegenregulation durch den Sympathikus sind sie auf maximale Weite gestellt. In aufrechter Position versackt das Blut in den Beinen, der Kreislauf kollabiert.«
»Das heißt, er ist nicht sofort durch die Stichverletzung gestorben?«, fragte die Staatsanwältin.
»Ganz sicher nicht, aber wahrscheinlich war er innerhalb von Sekunden immobilisiert. Der Dorn hat keine inneren Organe in Mitleidenschaft gezogen. Hätte ihn in den ersten Minuten jemand von diesem Schraubstock befreit und hingelegt, hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt, wenn auch mit dauerhaften Lähmungserscheinungen.«
Bartmann leierte noch einige Details herunter, unauffällige Ergebnisse von Gewebeproben und toxischen Untersuchungen. Dann erteilte Hoven der Kriminaltechnikerin das Wort. Sibylle Habich spulte ihr Standardprogramm ab, Rünz döste minutenlang mit offenen Augen und hellwachem Gesichtsausdruck weg – eine Fähigkeit, die er sich durch jahrelanges Training in zahllosen sterbenslangweiligen Besprechungen angeeignet hatte. Erst beim letzten Punkt der Kriminaltechnikerin wurde er wieder aufmerksam.
»Die Einfahrt vor der Schlosserei ist nicht flächendeckend asphaltiert, wir konnten im Lehm Reifenspuren sichern. Der Deutsche Wetterdienst hat einen halben Kilometer nördlich der Schlosserei eine Messstation, wir hatten in der Region am Tatabend um 23:30 Uhr Niederschläge, die die Spuren verwaschen hätten, das Fahrzeug muss also später gekommen sein. Wir haben das Profil untersucht und mit den Hersteller-Datenbanken abgeglichen. Das ist ein Silverstone MT117 in 35 × 15 Zoll. Ein echter Exot. Reinrassige, ziemlich seltene Geländebereifung ohne E-Kennzeichnung …«
»Kenne ich«, fiel ihr Wedel ins Wort, plötzlich hellwach und ganz in seinem Element. So ein Thema konnte er unmöglich einer Frau überlassen. »Diese Gummis werden nie unter weich gespülte SUVs montiert.«
Hoven verzog beleidigt das Gesicht ob dieser Schmähung für seinen neuen Lexus. Wedel redete unbeirrt weiter. »Verdammt nah am Traktor, das Profil. Echter Schlammbeißer. Die sieht man ausschließlich auf Geländewagen, die richtig durch die Ackerfurche gejagt werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit Mercedes G-Klasse, Landrover Defender, Nissan Patrol oder Toyota Land Cruiser. Ist keine Serienbereifung, muss eingetragen werden. Ich checke gleich die Datenbanken der Zulassungsstellen. Je nach Fahrzeugtyp muss vor der Umrüstung das Fahrwerk höhergelegt und der Lenkeinschlag begrenzt werden. Wenn der Halter alles ordentlich hat eintragen lassen, bleibt er im Suchfilter hängen. Der Rest ist Fleißarbeit.«
Alle schwiegen einen Moment, die Staatsanwältin machte sich noch einige Notizen, dann schaute sie auffordernd über den Rahmen ihrer Brille hinweg in die Runde. »Meine Damen und Herren, ich bitte um schlüssige Szenarien für diesen seltsamen Todesfall. Die wichtigste Frage: Ist Fremdeinwirkung plausibel?«
Sofort entwickelte sich eine hitzige kleine Diskussion zwischen Rünz und dem unscharfen Rechtsmediziner auf dem Bildschirm. Der Kommissar lieferte ein leidenschaftliches Plädoyer für einen tragischen Arbeitsunfall – ganz ohne Hintergedanken natürlich –, während Bartmann entschieden für eine Tatbeteiligung einer oder mehrerer Unbekannter votierte. Hoven moderierte das Streitgespräch, unparteiisch, souverän, mit Nachdruck und Einfühlungsvermögen – war dieser Selbstdarsteller bei Plasberg in die Lehre gegangen?
Die Staatsanwältin folgte der Diskussion aufmerksam, bis sich die Argumente wiederholten, und brachte die Kontrahenten dann mit
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