Kontrollverlust - Kontrollverlust
reden?«, jammerte Rünz.
»Ihre Frau hat Sie eben wissen lassen, dass Sie nicht schwanger ist«, klärte die Psychologin die Lage.
Rünz ließ sich breit grinsend in seinen Stuhl zurückfallen. »Na, dann ist doch alles knusper«, seufzte er erleichtert. »Mensch, du hast mir vielleicht Angst gemacht, Karin. Also wirklich. Einen alten Kommissar so zu erschrecken.« Er wackelte in spielerischem Tadel vor ihrem Gesicht mit dem Zeigefinger. »Hast mich ganz schön drangekriegt! So, ich muss jetzt ins Präsidium. Und heute Abend zischen wir einen Piccolo auf den Schreck, Schätzchen.«
Er kniff ihr neckisch wie einem Kind mit den Fingerknöcheln in die Wange. Dann stand er auf, steckte sich das Hemd wieder ordentlich in den Hosenbund und schaute noch mal kurz auf die Uhr. »Die letzten fünf Minuten brauchen Sie uns nicht von der Rechnung abziehen«, sagte er zu der Therapeutin. »Das geht schon in Ordnung – Sie sind doch sicher froh, wenn Sie noch etwas Schlaf nachholen können …«
Die beiden Frauen blieben einfach sitzen.
»Und?«, fragte ihn seine Gattin.
»Was ›und‹?«
»Wirst du jetzt nicht mehr mit mir ins Bett gehen?«
»Na ja, seit ich weiß, das du etwas lax umgehst mit der Verhütung …«
»Ach, während der Herr der Schöpfung in den letzten zwanzig Jahren beim Poppen ausschließlich an Verhütung gedacht hat! Ist es das, was du sagen willst?«
»Jetzt reg dich doch nicht gleich auf, hat doch all die Jahre wunderbar funktioniert!«
» Was hat funktioniert?«, insistierte seine Frau.
»Wir hatten unseren Spaß, und du bist nicht schwanger geworden.«
Er seufzte resigniert und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Also doch kein Hitzefrei. »Aber müssen wir das jetzt vor ihr bequatschen?« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Therapeutin, die den Dialog aufmerksam verfolgte.
»Vor wem sonst?«, fragte seine Frau. »Hast du eigentlich eine blasse Ahnung, was der ursprüngliche Sinn von Sex ist?«
»Klar! Ein bisschen Ablenkung vor dem Spätfilm. Sich die Wartezeit verkürzen.«
»Sex dient eigentlich der Fortpflanzung«, belehrte ihn seine Frau.
»Ich bitte dich«, konterte er. »Wir haben auch Beine zum Laufen, aber kein vernünftiger Mensch käme deswegen auf die Idee, morgens zum Bäcker zu gehen . Es gibt schließlich Autos.«
25
Der Kommissar ließ seinen Assistenten schmoren, schwieg beharrlich und stopfte sich provozierend langsam Maultaschen in den Mund. Die Teigwaren hatten jedenfalls die Form von Maultaschen, ihr Geschmack hingegen war weit davon entfernt. Die Kantinenküche hatte dank Hovens Initiative einen neuen Pächter, der seinen Part an der Agenda 2020 zügig umsetzte. Er servierte schlechteres Essen in kleineren Portionen auf größeren Tellern zu höheren Preisen und unter neuen, ambitionierten Namen – eine Nudelsuppe hieß jetzt ›Pasta in brodo‹, und die gute alte Hausmannskost kam stets mit dem Zusatz ›à la bourgeoise‹ daher. Der Chef de Cuisine stellte sich gerne selbst mal an die Essensausgabe und kredenzte den Mitarbeitern die kümmerliche Kost mit großer Grandezza und persönlicher Ansprache. Unter ›Prego, Signore‹ lief da gar nichts. Und Kritik an seinen Erzeugnissen schien ihn nur zu bestätigen, denn er war eigentlich zu Höherem berufen. Dem gemeinen Volk konnten und durften seine Kreationen nicht schmecken. Auf seinem Gebiet war er ein perfekter Wiedergänger Hovens; er kompensierte Inkompetenz durch Selbstbewusstsein und den unbedingten Willen zum großen Auftritt. Aber seit Brecker sich kaum noch in der Kantine blicken ließ, hatten die Mittagspausen ohnehin an Reiz verloren.
Wedel saß ihm gegenüber, sein Teller war längst leer gegessen, er schlürfte an seinem isotonischen Energydrink, rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und kratzte sich nervös an seinen aufgepumpten Oberarmen herum. Der riecht förmlich nach schlechtem Gewissen, dachte Rünz. Den lass ich noch ein wenig braten. Er schaute stoisch an seinem Assistenten vorbei und starrte eine der gusseisernen Figuren an, die seit zwei Wochen das Präsidium schmückten. Hoven hatte mal wieder eine Vernissage organisiert. Agenda 2020, Kapitel Kunst. Sicher hatte Hoven den jungen Bildhauer in der Rankingtabelle irgendeines Kunstmagazins entdeckt – der aufstrebende It-Boy der Szene. Überhaupt liebte Hoven alles, was sich durch Punktsysteme und Rankings vergleichen, validieren und evaluieren ließ. Er verließ sich in allen privaten und beruflichen
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