Kontrollverlust - Kontrollverlust
Angelegenheiten auf professionelle Beratung – wenn er gut essen gehen wollte, schaute er im Guide Michelin nach. Verlangte sein Weinkeller nach Nachschub, konsultierte er Robert Parkers Wein-Guide. Sein Verhältnis zu den schönen Dingen des Lebens war typisch für Businessmenschen – dicke Brieftaschen und dünne Kennerschaft.
Sah Rünz da richtig? Hatte tatsächlich einer der Kollegen mit einer zwischen den Oberschenkeln eingeklemmten Banane den Genitalbereich eines Eisenberserkers etwas herausmodelliert? Gewundert hätte es ihn nicht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Präsidiums hatten eine unbefangene, bisweilen hemdsärmelig-praktische Art des Umgangs mit den Ausstellungsstücken. Die abstrakten Installationen in den Fluren dienten bald als Jacken- und Schirmständer, an animierten Mobiles hingen Zettel mit privaten Verkaufsangeboten für Kinderwagen und Tischtennisplatten. Auf und an sämtlichen Bildern und Skulpturen wurden – sofern die Darstellungen Menschen zumindest ähnelten – Genitalien ergänzt oder, waren diese bereits angedeutet, exorbitant vergrößert. Für die Gemälde reichte meist ein dicker Edding, bei den figürlichen Darstellungen, wie hier in der Kantine, war mehr Fantasie gefragt. Hoven empfand diese Verunstaltungen nicht als Affront, er goutierte sie, verbuchte diese pubertäre Form der Kunstaneignung als vollen Erfolg seines Ausstellungskonzeptes und sprach von ›gelungener Integration in die Arbeitswelt‹. Denn seit Hoven zum Verkünder der neuen Ganzheitlichkeit mutiert war, standen alle Schleusen offen, alles war möglich. Ermittlungsarbeit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Kunst – alles hatte mit allem zu tun, ein großes harmonisches Kontinuum. Ein Leben als permanente Grenzüberschreitung. Wenn er hier im Präsidium schon Vernissagen veranstaltete, warum betreuten sie dann nicht auch noch Kleinkinder oder lasen sich gegenseitig Gedichte vor?
»Was ist eigentlich bei dieser Sache mit dem Reifenprofil rausgekommen?«, schoss Rünz ohne Vorwarnung aus der Hüfte, schmatzend, den Blick weiter starr auf die erigierte Banane geheftet.
»Wir haben in einem Umkreis von vierzig Kilometern zweiunddreißig Fahrzeughalter, deren Autos mit dieser Bereifung ausgestattet sind …«
»Wie viele davon in der Stadt Darmstadt und im Landkreis?«
»Keine Ahnung, sechs oder sieben, habe die Zahlen jetzt nicht im Kopf …«
»Hast du die schon durchgecheckt?«
»Nicht alle, ich dachte, ich arbeite die alphabetisch ab …«
»Und? Schon bei B angekommen?«
Wedel reagierte nicht.
»Das größte Schwein im ganzen Land – ist und bleibt der Denunziant«, säuselte der Kommissar leise, zur Titelmelodie seiner Lieblingsserie ›Walker, Texas Ranger‹, weil ihm gerade keine bessere einfiel.
In Wedel schien es langsam zu rumoren.
»Wie stellst du dir eigentlich deine Zukunft hier im Präsidium vor, Ansgar? Was hältst du von der Dienstaufsicht, die suchen immer nach Typen, die gerne Kollegen hinterherspionieren.«
Wedel kam langsam aus der Reserve. »Das sagt genau der Richtige. Sieht vielleicht nicht danach aus, aber in meinem Rolli herrscht normalerweise eine gewisse Ordnung«, sagte er vorwurfsvoll.
»Sorry, wenn ich da was durcheinandergebracht habe. Aber dann brauchen wir ja nicht lange rumzueiern«, verkündete Rünz. »Was du mit der Behrens oder Hoven vereinbart hast, ist mir scheißegal. Ich will wissen, welche Verbindung Brecker zu diesen Schrotthändlern in Colorado hat, welche Verbindung er zu dem toten Schlosser hat und welche Verbindung der tote Schlosser zu diesen Altmetallern in Colorado hat.«
Wedel erzählte ihm in knappen Sätzen von der Profiluntersuchung und der Szene bei der Spedition, ohne die schmerzhaften Läsionen an seinem Scirocco zu erwähnen. Und er gab einige Informationen preis, die Rünz in den Unterlagen nicht gefunden hatte: über verschlüsselten Mailverkehr zwischen Breckers privatem Account und den beiden PCs in der öffentlichen Leihbibliothek in Eagle, der sich über zwei Monate hingezogen hatte.
»Das heißt, den Container haben diese beiden Cowboys an Brecker adressiert?«
»Adressat war eine ›D-Fense GmbH‹, die steht erst seit knapp vier Monaten im Handelsregister. Firmensitz ist die Borsdorffstraße 40 in Kranichstein. Ein Altenheim. Und alleinige Gesellschafterin der GmbH ist Johanna Brecker, die Mutter deines Kumpels.«
Rünz verschluckte sich fast am letzten Maultaschenzipfel und musste heftig husten, bevor er weiterreden konnte.
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