Kopernikus 1
Leben hat keinen Sinn gehabt, keine Poesie, keine Bedeutung. Dasselbe gilt für unseren Tod. Wenn wir weg sind, dauert es nicht lange, und das Universum hat uns vergessen, schon nach kurzer Zeit wird es den Anschein haben, als hätten wir niemals gelebt. Schließlich wird die Entropie alles verschlingen, und alle unsere schwächlichen Bemühungen können gegen dieses schreckliche Ende nichts ausrichten. Es wird vorbei sein. Es wird nie gewesen sein. Es hat nie eine Rolle gespielt. Selbst das Universum ist dem Untergang geweiht, ist vergänglich, und das ist ihm völlig egal.“
Ich rutschte auf meinem Stuhl zurück, und ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich den düsteren Worten des armen Lukyan lauschte. Ich ertappte mich dabei, wie ich an meinem Kruzifix nestelte. „Eine trübe Philosophie“, sagte ich, „und falsch ist sie obendrein. Ich habe eine derart beängstigende Vision auch schon gehabt. Ich glaube, irgendwann hatten wir sie alle einmal. Aber so ist es nicht, Pater. Vor solchem Nihilismus bewahrt mich mein Glaube. Der Glaube ist ein Schutzschild gegen die Verzweiflung.“
„Oh, das weiß ich, mein Freund, mein Ritter der Inquisition“, sagte Lukyan. „Ich freue mich, daß wir uns so gut verstehen. Sie sind schon beinahe einer von uns.“
Ich runzelte die Stirn.
„Sie haben ins Schwarze getroffen“, fuhr er fort. „Die Wahrheiten, die großen Wahrheiten – und auch die meisten weniger großen – sind für den überwiegenden Teil der Menschheit unerträglich. Wir finden unseren Schutzschild im Glauben. In Ihrem Glauben, in meinem, in jedem. Nichts spielt eine Rolle, solange wir glauben, wirklich und wahrhaftig glauben, egal, an welche Lüge wir uns auch klammern.“ Er zupfte an den ausgefransten Spitzen seines blonden Bartes. „Wissen Sie, die Psychologen haben uns immer eingeredet, die Glücklichen seien die Gläubigen. Man mag an Christus, an Buddha oder Erica Stromjones glauben, an die Wiedergeburt oder die Unsterblichkeit oder an die Natur, an die Macht der Liebe oder an die Grundsätze einer politischen Partei, es läuft immer auf dasselbe hinaus. Man glaubt, also ist man glücklich. Die die Wahrheit gesehen haben, sind diejenigen, die verzweifeln und sich umbringen. Die Wahrheit ist so gewaltig, der Glaube so gering, so dürftig, so von Irrtümern und Widersprüchen durchlöchert. Wir blicken hinter ihre Fassade und durchschauen sie, und dann spüren wir das Gewicht der Dunkelheit auf uns und können nicht mehr glücklich sein.“
Ich bin nicht schwer von Begriff. Ich wußte längst, worauf Lukyan Judasson hinauswollte. „Ihr Lügner erfindet also einen Glauben.“
Er lächelte. „Alle möglichen Glauben. Nicht nur religiöse. Stellen Sie sich das mal vor. Wir wissen, was für ein grausames Instrument die Wahrheit ist. Wir ziehen die Schönheit der Wahrheit tausendmal vor. Wir erfinden Schönheit, Glaubensrichtungen, politische Bewegungen, hohe Ideale, den Glauben an Liebe und Kameradschaft. Das sind alles Lügen. Wir erzählen diese und andere Lügen, zahllose andere. Wir verschönern die Geschichte, den Mythos, die Religion, wir machen alles schöner, besser und leichter zu glauben. Unsere Lügen sind nicht vollkommen, natürlich nicht. Die Wahrheiten sind zu groß. Aber vielleicht stoßen wir eines Tages auf die eine große Lüge, für die die ganze Menschheit Verwendung hat. Bis dahin müssen wir uns eben mit tausend kleinen Lügen begnügen.“
„Ich fürchte, ihr Lügner laßt mich ziemlich kalt“, sagte ich mit kühler, gelassener Inbrunst. „Mein ganzes Leben war ein einziges Streben nach Wahrheit.“
Lukyan hatte Nachsicht. „Pater Damien Her Varis, Ritter der Inquisition. Ich kenne Sie besser. Sie sind auch ein Lügner. Sie leisten gute Arbeit. Sie reisen von Welt zu Welt und vernichten die Dummen, die Rebellen, die Fragenden, die das Gefüge der gewaltigen Lüge, der Sie dienen, zum Einsturz bringen könnten.“
„Wenn die Lüge, der ich diene, so bewundernswert ist“, sagte ich, „warum haben Sie sich dann von ihr getrennt?“
„Eine Religion muß zu einer Kultur und zu ihrer Gesellschaft passen, mit ihr zusammenarbeiten, nicht gegen sie. Wenn es Reibungen, Widersprüche gibt, dann bricht die Lüge in sich zusammen, der Glaube wankt. Ihre Kirche, Pater, ist für viele Welten gut, doch nicht für Arion. Hier ist das Leben freundlich, Ihr Glaube aber ist streng. Wir lieben hier die Schönheit, und Ihr Glaube bietet davon zu wenig. Also haben wir
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