Kopernikus 5
schaute er in die Richtung, wo ich sein mußte. „Entpolarisieren! Auf durchsichtig schalten!“ keuchte er.
Ich riß mich vom Periskop los, fand den Schalter und legte ihn um. Augenblicklich konnten wir alle in den Käfig sehen. Und natürlich waren all die Spiegelwelten verschwunden.
Aber Ralph kämpfte immer noch – mit der leeren Luft! Seine Finger griffen immer noch zu. Ja, ich verstand, was er tat, wenn es auch für die anderen eine verrückte Pantomime sein mußte. Er riß den Tod so weit los, daß er ihn in einer Hand halten konnte – um ihn dann weit von sich zu schleudern? Nein, niemals würde er den Tod fahren lassen, jetzt, da er ihn besiegt hatte. Mit gebleckten Zähnen unter Schmerzen grinsend, hielt er die eine festhaltende Hand in einer Art Salut mit halbgeballter Faust empor.
„Strom aus!“ befahl er rauh.
Ich drückte den Knopf. Das knisternde Zischen verklang.
„Schließ den Käfig auf, Jonathan!“ Selbst unter Schmerzen gebrauchte er nicht die Abkürzung meines Namens.
Ich zögerte einen Augenblick. Ließ ich damit etwa den Tod in die Welt hinaus? Aber ohne Strom wären ein paar Drähte wohl ohnedies kein Hindernis für ihn gewesen.
Ralph sah mein Zögern. „Du Dummkopf, ich habe ihn doch!“ schrie er mir von jenseits der Drähte ins Gesicht. Er hätte sie mit Gewalt durchbrechen können, aber selbst in seiner Situation mochte er seine Erfindung nicht beschädigen. „Und er ist ja sowieso nicht hier. Nicht in diesem ‚Hier’. Er ist noch immer im Spiegelbild – und dort habe ich ihn im Griff!“
Wirklich? Hatte er ihn im Griff? Oder war der Schmerz in seinen zerrissenen Nerven und zerhackten Fingerknochen so tief eingegraben, daß er sich einbildete, er habe etwas im Griff? Spürte er den immer noch andauernden Kampf nur so wie ein Amputierter einen Phantomschmerz? So wie er immer noch in die Luft griff und seine Lippen zerbiß, konnte ich das nicht glauben. Die Spiegelbilder waren verschwunden – wohin Spiegelbilder nach Dienstschluß auch immer verschwinden mögen –, aber seine Spiegelhand umklammerte dort draußen immer noch den Tod und ahmte seine wirkliche Hand in Form und Haltung nach.
Ich zerriß die Kette in meiner Hast, als ich nach dem Schlüssel an meinem Hals griff. Ein paarmal mußte ich ansetzen, ehe ich ihn in das Schloß bekam und umdrehte.
Ich öffnete die Tür. Ralph kroch heraus und stand auf, die halbgeballte Faust auf Armeslänge vor sich, Triumph und Qual im Gesicht.
Das ist jetzt drei Tage her. Ralph hat in der Zwischenzeit kein Auge zugetan. Ich glaube nicht, daß er jetzt noch loslassen könnte, selbst wenn er wollte. Seine Hand ist mit dem Tod zu sehr verflochten: Klauen sind in Knochen verhakt, Knochen umschließen Flügel. Seine Hand bleibt bewegungsunfähig, verkrümmt wie bei einem besonders schweren Fall von Arthritis, aber ansonsten scheint sie eine normale Hand ohne jede Verletzung zu sein.
„Hysterische Verkrampfung“, so lautet Dr. Sczepanskis Diagnose. Sie glaubt nicht, was ich gesehen habe. Swami Ananda auch nicht. Sie wissen, daß es den leibhaftigen Tod nicht gibt, und das Videoband zeigt nur Ralph, allein im Käfig und dann plötzlich sich aufsetzend und in die leere Luft greifend.
Jetzt bin ich im Büro allein mit ihm. Es ist Nacht. Viele Menschen sterben um drei Uhr nachts. Das ist der tote Punkt zwischen Nacht und Tag, die Stunde der Mutlosigkeit, der Tiefpunkt der Biorhythmen.
Im Moment ist es halb zwei. Ralph sitzt zusammengesunken in seinem Sessel; der Schmerz hält ihn wach, seine verkrampfte Hand ruht auf dem Schreibtisch.
„Du hast es gesehen, Jonathan.“
„Ja, ich habe es gesehen.“
Mary Ann glaubt, ich hätte mich dadurch, daß ich zu lange durch das Periskop in den vielfach widergespiegelten Raum gestarrt hätte, selbst in Hypnose versetzt. Meine Aufmerksamkeit wäre von den Spiegeln eingefangen worden. Ich wäre im Grunde im Zustand der sensorischen Deprivation gewesen. Ich hätte gerade frei und in großem Stil Halluzinationen entwickelt, als Ralph sich aufsetzte und gegen Phantome zu kämpfen begann. Ich hätte den Splitter in meinem eigenen Auge gesehen. Ich hätte ihn mit Scheinleben erfüllt – ebenso wie Ralph, aus der tiefsten Trance gerissen, das durch sein Herz pulsierende Blut verkörpert in der Luft als den Hahn, die Fledermaus, die Motte des Todes sah.
„Du glaubst mir doch jetzt, Jonathan?“
„Glauben? Ich weiß!“
So sitzt Ralph nun vor mir und hält den Tod auf Armeslänge von sich
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