Kopernikus 6
zweiten oder dritten Mal; ich habe geschlafen und gewacht, geschlafen und gewacht, bis ich nicht mehr wußte, welche Stimmen Träume waren und welche, wenn überhaupt, Wirklichkeit. Ich spüre einen Stich. „Ruh dich jetzt aus. Du hast einen langen Schlaf hinter dir.“
Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal aufgewacht bin. Das weiße Zimmer, weißes Zeug über mir. Draußen Schwärze und die blauweiße Scheibe.
„Auf dem Mond“, sage ich. Meine Glieder fühlen sich schwer an. Mir ist schwindlig. Der Schlaf zerrt an meinem Fleisch. „Der Mond.“
„Ist es nicht wunderbar?“
„Und Tuka, mein Mann, sagen Sie – tot.“
Sie preßt die Lippen zusammen und sieht mich ernst an. „Er hat den Schlaf nicht überstanden.“
„Der Mond ist hohl“, erkläre ich ihr. „Das weiß doch jeder. Die Toten schlafen dort.“ Ich starre die Decke an. „Ich bin am Leben und auf dem Mond. Tuka ist tot, aber er ist nicht hier.“ Die Worte scheinen aus meinem Mund zu schweben. An der Decke sind kleine Flecken.
„Schlaf jetzt, sei ein braves Mädchen. Später unterhalten wir uns weiter.“
„Und Kuara. Mein Sohn. Er lebt.“ Die Flecken drehen sich. Ich schließe die Augen. Die Flecken drehen sich noch immer.
„Ja, aber …“
„Vor etwa hundert Jahren wurde ein Gesetz zum Schütze gefährdeter Arten erlassen – also von Tieren, die aussterben könnten, wenn der Mensch nicht sehr aufpaßte“, erzählt Doktor Stefanko. Ihr Gesicht ist nicht mehr verschwommen. Sie hat graues Haar und hagere Wangen. Irgendwo habe ich sie schon gesehen – lange bevor ich an diesen Ort gebracht wurde. Aber mir fällt nicht ein, wo das war. Die Erinnerung gleitet immer weiter weg.
Gai steht grinsend am Fenster. Er trägt einen Lendenschurz. Das, was Doktor Stefanko die Erde nennt, umgibt als leuchtende Scheibe seinen Kopf. Durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen schaut seine riesige, narbige Zunge hervor. Seine Schultern fallen ab wie die eines Hartebeest. Auf seiner lederigen, runzligen Brust wachsen ergrauende Haarbüschel. Nach seinem Verrat bin ich nicht erstaunt, ihn hier zu sehen. Er bringt das Num in meiner Magengrube zum Pulsieren. Ich schaue weg.
„Dann wurde das Gesetz dahingehend erweitert, daß es gefährdete Völker einbezog. Völker wie die Gwi.“ Doktor Stefanko setzt ein mütterliches Lächeln auf und stupst mir mit dem Zeigefinger auf die Nase. Ich werfe den Kopf zurück. Sie runzelt die Stirn. „Natürlich war es nicht möglich, ganze Stämme zu retten. Also taten die Urheber des Gesetzes, was sie für das Beste hielten. Sie retteten bestimmte Exemplare. Dich. Deine Familie. Ein paar andere wie Gai. Diese Vertreter wurden eingefroren.“
„Eingefroren?“
„Kalt gemacht.“
„So wie in der Gum-Zeil, wenn sich in den Straußenei-Kanistern Eis bildet?“
„Noch viel kälter.“
Das war also kein Traum. Ich erinnere mich, daß ich durch etwas Blaues, Glänzendes, Zerknittertes gestarrt habe. Wie Licht, das man durch eine Schlangenhaut sieht. Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl ich im Inneren die ganze Zeit zitterte. Das ist also der Tod, hatte ich gedacht.
„ In der Zwischenzeit wurdet ihr hierher auf den Mond gebracht. Nach Carnival. Es ist ein schöner Ort. Eine wirklich internationale Einrichtung, erbaut als Wahrzeichen für die Harmonie der Völker. Hier haben wir uns bemüht, von dem, was war, das Beste neu zu schaffen.“ Sie hält inne, und ihr Blick wird scharf. „Hier wird jetzt deine Heimat sein, U“, sagt sie .
„Und Kuara?“
„Er wird hier mit dir leben, wenn es soweit ist.“ Etwas in ihrer Stimme ruft Furcht in mir wach. Dann sagt sie: „Möchtest du ihn sehen?“ Ein Teil der Furcht verschwindet.
„Ist das ratsam, Doktor?“ fragt Gai. „Der hier ist nicht zu trauen.“ Seine Augen grinsen auf mich herunter. Er
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