Kopernikus 6
starrt auf meinen Unterleib.
„Ach, das wird schon gutgehen. Du wirst doch ein braves Mädchen sein, U, nicht wahr?“
Mein Kopf nickt. Mein Herz sagt weder ja noch nein.
Die Riemen springen mit lautem Klicken auf. Doktor Stefanko und Gai helfen mir auf die Füße. Die Welt schwankt. Die Erdscheibe stellt sich schräg und schwingt hin und her. Der Fußboden neigt sich in eine, dann in die andere Richtung. In meinen Händen und Füßen kribbelt es. Mir wird in einen Stuhl geholfen. Es klickt wieder. Die Tür öffnet sich mit Zischen, und der Stuhl schwebt hinaus. Doktor Stefanko geht voran, Gai tapst hinterher. Wir bewegen uns durch einen Korridor nach dem anderen. Lauter rechte Winkel. Nichts ist krumm, bis auf die Münder von Weißen, die uns im Vorbeigehen zulächeln. Und die sind zu krumm.
Wieder zischt eine Tür. Wir kommen in einen kalten Raum. Blaues Glas, von innen bereift, erstreckt sich an beiden Wänden vom Boden bis zur Decke. Hinter dem Glas stehen eingefrorene Gestalten. Ich erinnere mich an diesen Ort. Ich erinnere mich, wie träge sich der Haß in meinem Herzen anfühlte.
„Kuara ist dort hinten“, sagt Doktor Stefanko. Ihr Atem ist weiß.
Der Stuhl schwebt näher. Meine Beine stoßen an das Glas; Kälte durchzuckt meine Knie. Der Stuhl weicht zurück. Ich lehne mich nach vorn. Durch das Glas kann ich die geschlossenen Augen meines Sohnes sehen. Seine Wimpern und Brauen sind bereift. Der Kopf lehnt zur Seite. Seine Ärmchen hängen herunter. Trotz der Kälte berühre ich das Glas. Gai zieht scharf den Atem ein und drückt meine Schultern zurück, aber Doktor Stefanko legt die Hand auf Gais Handgelenk, und er läßt mich frei. Dieses Glas gibt nach, anders als das an den Lastwagen auf dem Tsamafeld. Num steigt in mir auf. Mein Herz schlägt schneller. Num dringt in meine Arme, flutet in meine Finger. „Kuara“, flüstere ich. Wärme breitet sich auf dem Glas aus. Sie bildet einen kleinen, unregelmäßigen Kreis.
„Sobald du dich in deiner neuen Heimat eingelebt hast, kommt er hier heraus“, sagt Doktor Stefanko.
Kuara. Wenn ich nur tanzen könnte. Das Num würde in mir sieden. Ich könnte Kia machen. Ich würde die Geister der Kälte verscheuchen. Du würdest erwachen, durch das Glas treten und in meine Arme kommen.
Wenn es uns auch oft an Wasser fehlte, so waren wir doch nicht unglücklich. Die Tsama-Melonen erhielten uns am Leben. Es war ein großes Feld, und wenn wir sparsam waren, konnten wir lange Zeit auskommen, ohne zu den Wasserlöchern wandern zu müssen. Die Pfannen Garn und Gautscha waren von Weißen und zahmen Buschleuten besetzt, und ihre Bewohner, die Kung, waren zum Teil geflohen, zum Teil um des Wassers willen geblieben und arbeiteten jetzt auf den Farmen der Weißen und aßen ihre Nahrung.
Wir waren elf, manchmal auch ein oder zwei mehr. Der unverheiratete Gai war einer von denen, die kamen und gingen. Tuka pflegte zu sagen: „Man kann uns immer an drei Händen abzählen, aber nie an zwei oder vier Händen.“ Dann lachte er. Er lachte eigentlich immer. Ich glaube, er lachte, weil es in der Nähe unserer Heimat, der Akam-Pfanne, so wenig Wild gab. Die wenigen Duiker und Springböcke, die früher über die Ebene gezogen waren, hatten das Vordringen der Weißen und die Flucht der Kung gerochen und waren weggelaufen. Tuka lachte, um die Leere auszufüllen.
Wenn er nicht gerade Fallen für Springhasen und Stachelschweine stellte, half er mir manchmal, Holz und Knollenfrüchte zu sammeln. Wir gruben nach Xwa-Wurzeln und nach Koa, der tief in der Erde verborgenen Wasserwurzel, bis uns die Arme weh taten. Manchmal schlugen wir auch mit Stöcken auf den Na-Baum ein, daß die süßen Beeren abfielen, und dann jagte mich Tuka immer rundherum und lachte und kreischte wie ein Irrer. Zu solchen Zeiten fragte ich mich manchmal,
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