Kopernikus 8
glaube, dessen Name lautete Raleigh Renaissance – und seine Tante und sein Ururgroßvater. Das liegt nur am Malen und an den jungen Radikalen, den Jungen Rettichen, mit denen er immer herumzieht. Er ist zu künstlerisch, zu sensibel. O Gott, wenn meinem kleinen Jungen etwas zustößt, dann muß ich nach Ägypten.
Chib kennt ihre Gedanken, die sie so oft ausgesprochen hat, da sie außerstande ist, neue zu haben. Er geht wortlos an der Tafelrunde vorbei. Die Ritter und Ladys dieses getürkten Camelot sehen ihn durch Bier dunst an.
In der Küche öffnet er eine ovale Tür in der Wand. Er entfernt ein Tablett mit Essen in zugedeckten Schüsseln und Tassen, die ausnahmslos aus Plastik bestehen.
„Möchtest du denn nicht mit uns essen?“
„Heul nicht, Mama“, sagt er und geht in sein Zimmer zurück, um noch einige Zigarren für Großpapa zu holen. Die Tür, die die veränderlichen, aber immer kenntlichen elektrischen Felder der Epidermis wahrnimmt, verstärkt und umwandelt, reagiert auf ihn. Chib ist zu aufgeregt. Magnetische Mahlströme rasen über seine Haut und zerstören die spektrale Konfiguration. Die Tür rollt halb zurück, rollt wieder vor, ändert ihre Meinung, rollt zurück und wieder vor.
Chib kickt gegen die Tür, worauf sie vollends blockiert. Er beschließt, ein Video- oder Audiosesam einbauen zu lassen. Der Ärger ist nur, daß er knapp an Einheiten ist und die entsprechenden Materialien nicht kaufen kann. Schulterzuckend begibt er sich in dem einwandigen Flur bis zu Großpapas Tür, die hinter den Ziehharmonikawänden vor den Blicken derer im Wohnzimmer verborgen ist.
„Denn er sang von Frieden und Freiheit,
Sang von Schönheit, Liebe und Verlangen;
Sang von Tod und unsterblichem Leben
Auf den Inseln der Gesegneten,
Im Königreich von Ponemah,
Im Lande des Jenseits.
Sehr nahe bei Hiawatha
War der sanfte Chibiabos.“
Chib singt das Kodewort. Die Tür rollt zurück.
Licht strahlt heraus, ein gelbliches, rötlich angehauchtes Licht, das Großpapas eigene Erfindung ist. Schaut man ins konvexe Oval der Tür, so ist das, als würde man in die Iris im Auge eines wahnsinnigen Riesen schauen.
Großpapa, in der Mitte des Raumes, hat einen weißen Bart bis zu den Oberschenkeln und Kopfhaar bis fast an die Kniekehlen. Obwohl Haar und Bart seine Nacktheit verbergen würden und er überdies nicht mehr unter die Leute geht, trägt Großpapa eine kurze Hose. Großpapa ist ein wenig altmodisch, was aber bei einem Mann von einhundertundzwanzig Lenzen auch verständlich ist.
Er ist einäugig, wie Rex Luscus. Aber er lächelt mit eigenen Zähnen, die aus vor dreißig Jahren eingepflanzten Stummeln gewachsen sind. Eine große, grüne Zigarre sticht aus einem Mundwinkel hervor. Seine Nase ist breit und platt, als wäre die Zeit schweren Fußes über sie hinweggeschritten. Stirn und Wangen sind ebenfalls breit, was wahrscheinlich auf einen Schuß Ojibwayblut zurückzuführen ist, der in seinen Adern fließt, obwohl er ein geborener Finnegan ist und sogar keltisch riecht, sieht man vom Whiskeyaroma ab. Er hält den Kopf aufrecht, und die blauen Augen sind wie Tümpel am Fuß einer urzeitlichen Schlucht, die Überbleibsel eines geschmolzenen Gletschers.
Alles in allem ist Großpapas Gesicht das Odins, der gerade vom Brunnen von Mimir zurückkommt und sich fragt, ob er einen zu hohen Preis gezahlt hat. Oder ist es das Gesicht der windumtosten und sandgeschmirgelten Sphinx von Gizeh?
„Vierzig Jahrhunderte der Hysterie sehen auf euch herab, um Napoleon zu verballhornen“, sagt Großpapa. „Der Felskopf der Jahrhunderte. Was also ist der Mensch? sagte die neue Sphinx, nachdem Ödipus die Frage der alten Sphinx beantworten konnte und nichts
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