Kopernikus 9
Träume und das Unterbewußtsein einer fremden Person gerissen zu werden. Dazu fehlte ihr die notwendige Erfahrung und innere Stärke. Sie mußte sich in einiger Entfernung halten, immer bereit, beim Erwachen erneut den Kontakt herzustellen.
Nur schwer fand sie jedoch zurück hinter die schützende Mauer ihres eigenen Bewußtseins. Zu stark hatten die neuen Erfahrungen ihre mühsam aufgebaute Zuversicht erschüttert. Auch wenn sie aus völlig unterschiedlichen Welten kamen, gab es zu viele Gemeinsamkeiten, und die Ängste und Zweifel des FREEWORLD-Mädchens ließen ihr eigenes Leben in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Sie begann, vieles zu begreifen, was sie bisher nur geahnt hatte. Und mit der Erkenntnis ihres Selbstbetrugs wuchs auch ihre Unsicherheit. Aber sie durfte jetzt auf sich keine Rücksicht nehmen, denn noch hatte sie ihre Aufgabe nicht erfüllt, noch lag das Ende der Rücklaufzeit weit vor ihr.
Nicht nachdenken. Nur nicht nachdenken. Sie versuchte, die fremden Erlebnisse der letzten Stunden zu verdrängen, horchte aufmerksam in das Nichts um sie herum, wollte in der Konzentration auf ihre eigentliche Aufgabe die neuen Gedanken vergessen. Obwohl sie spürte, daß ihre Situation durch einen erneuten Kontakt nur noch schlimmer werden mußte.
Dann schienen sich die Traumbilder und verwirrenden Farben und Formen wieder zu einer auch ihr inzwischen vertrauten Umgebung zu verdichten. Also näherte sie sich trotz ihrer Angst dem Ich des FREEWORLD-Mädchens und verschmolz mit ihrer Erinnerung.
Monika hatte FREEWORLD verlassen. Außerhalb ihrer Dienstzeit standen ihr die Grenzen zu den anderen Decks offen; zwar nur für drei Stunden, aber das Mädchen nutzte diese Zeit regelmäßig für einen Spaziergang durch den Park des Oberdecks. Der Park – eigentlich der einzige Ort an Bord dieses Sternenschiffes, der noch an die weit entfernte Heimat erinnerte. Monika hatte die Erde nie gesehen, aber sie hatte viel über die Welt ihrer Eltern gelesen. Vielleicht mehr als die meisten anderen hier. Einfach, weil sie sich nicht mit dem zufrieden geben wollte, was man ihr in der Schule oder beim Gesundheitsdienst erzählt hatte. Sie wußte, daß man sie auch dort nicht belogen hatte, daß die Schilderungen von den erschreckenden Zuständen auf der längst aus dem Gleichgewicht geratenen Heimatwelt der Wahrheit entsprachen, aber sie fragte sich, ob dieser Weg, den sie eingeschlagen hatten, der richtige war. Sie zweifelte. Weil sie die Menschen an Bord dieses Schiffes kannte und weil sie spürte, daß die unentrinnbare Macht, die alle Fäden in der Hand hielt, auch nach einer Landung nicht bereit sein würde, etwas von ihrer Allgewalt einzubüßen.
Es war still im Park. Vögel, Insekten oder die kleineren Tiere ihrer Heimat gab es hier nicht. Wahrscheinlich hatte man sie damals nicht mit an Bord genommen, weil die Infektionsgefahr zu groß war. Oder sie waren auf der jahrzehntelangen Reise zu den Sternen gestorben.
Monika blickte zur blauschwarzen Himmelskuppel empor. Es war Nacht, und man hatte einen künstlichen Vollmond geschaffen, dessen silberhelles Licht die Bäume, Sträucher, Blumen und Gräser in metallischen Glanz tauchte. Das Bild war unwirklich, konnte trotz aller Natürlichkeit den Hauch des Künstlichen nicht leugnen.
Nachdenklich setzte sich Monika unter einen der hohen Bäume. Die Stille tat ihr gut, und sie fühlte sich geborgen. Das Schiff mit seiner Perfektion, mit seiner kalten, alles umfassenden Technik schien weit entfernt. Um diese Zeit kam selten jemand in diesen Park. Vielleicht, weil die Stille und Abgeschiedenheit die Menschen ängstigte?
Monika ließ sich in das nachtfeuchte Gras sinken. Sie dachte nicht mehr an den Brief, auch nicht mehr an Sissi, und irgendwie war ihr alles egal, was sie bis vor kurzem noch bedrückt hatte. Sie stellte sich vor, wie schön es sein mußte, einfach hier liegenzubleiben und zu sterben. Sich einfach weigern, aufzustehen und weiterzufunktionieren.
Sie starrte so lange in den Silbermond, träumte, bis ihre Gedanken endgültig dieses Schiff hinter sich gelassen hatten. Dabei schien die Kugel des künstlichen Erdtrabanten immer weiter zu wachsen, immer mehr den Himmel zu beherrschen. Die Sterne schienen zu wandern, ihre vertrauten Positionen an der Kuppel zu verändern. Es war eine ständige Bewegung in der Höhe, und ein plötzliches Schwindelgefühl überkam sie.
Sie schloß die Augen. Der fremdartig große Mond blieb. Aber da war noch etwas anderes
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