Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopernikus 9

Kopernikus 9

Titel: Kopernikus 9 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
Vom Netzwerk:
Klasse wandten sich zu ihm um, als er eintrat, und es wurde totenstill im Raum. Tommy stand in der Tür, angsterfüllt, und er wünschte sich, er könnte im Boden versinken oder sich unsichtbar machen oder weglaufen. Aber er konnte nur dastehen, rot vor Scham, und sehen, wie alle ihn beobachteten. Die Gesichter seiner Klassenkameraden waren höhnisch, boshaft, schadenfroh und erwartungsvoll. Seine Freunde, Steve Edwards und Bobbie Williamson, grinsten gemein und hinterhältig, sorgsam darauf achtend, daß die Lehrerin sie nicht sehen konnte. Jeder wußte, daß es nun etwas setzen würde, und sie brannten darauf zuzusehen, selbstgerecht und gleichzeitig froh, daß es nicht sie erwischt hatte. Miss Fredricks, die Lehrerin, beobachtete ihn eisig vom anderen Ende der Klasse aus. Sie sagte kein Wort. Tommy schloß die Tür hinter sich, und der markerschütternde Lärm, mit dem sie ins Schloß klickte, ließ ihn zusammenfahren. Miss Fredricks ließ ihn zu seinem Pult gehen und sich hinsetzen – er verspürte ein jähes Aufwallen von Hoffnung –, bevor sie ihn ansprach und ihn wieder aufstehen ließ.
    „Tommy, du kommst zu spät“, sagte sie kalt.
    „Ja, Miss.“
    „Du kommst erheblich zu spät.“ Die Versäumnisliste der vorigen Stunde lag vor ihr auf dem Pult, und sie hantierte damit, während sie sprach. Ihre Finger glätteten und falteten sie wieder und wieder. Sie war eine große, magere Frau um die Vierzig, aber sie hätte ebensogut auch sechzig oder zwanzig sein können – alle ihre Säfte waren schon vor Jahren ausgetrocknet, und sie war alterslos, unveränderbar und unvergänglich geworden, wie eine Mumie. Sie wirkte eigentlich nicht verdorrt, sondern eher so, als wäre sie in irgendeinem Ofen des Lebens zu einer harten, zähen, lederartigen Substanz gebacken worden, wie Fleisch, das man in der Sonne liegen läßt, bis es zu Dörrfleisch geworden ist. Ihre Haut war feinporig, trocken und leicht vergilbt, wie Pergament. Ihre Brüste hingen schlaff bis in die Höhe ihrer Taille und wölbten sich knapp über dem Gürtel ihres Rockes wie seltsame Geschwülste oder Tumore. Ihr Gesicht war eine glatte Latexmaske.
    „Du bist in dieser Woche zweimal zu spät zur Schule gekommen“, sagte sie mit präziser Aussprache, und sie bewegte den Mund so wenig wie möglich. „Und dreimal in der letzten Woche.“ Sie kritzelte etwas auf ein Blatt und ließ ihn nach vorn kommen, um es abzuholen. „Ich gebe dir noch einmal eine Mitteilung an deine Mutter. Ich möchte, daß sie sie diesmal unterschreibt, und ich möchte, daß du sie mir zurückbringst. Hast du mich verstanden?“ Sie starrte Tommy an, und ihre Augen waren wie Tunnel in ihrem Kopf, die zu einem trostlosen Ozean aus Eis führten. „Und wenn du noch einmal zu spät kommst oder mir sonst irgendwelche Schwierigkeiten machst, werde ich für dich einen Termin beim Schulpsychiater machen. Und der wird sich um dich kümmern. Und jetzt geh auf deinen Platz und verschone uns mit weiteren Mätzchen.“
    Tommy kehrte zu seinem Tisch zurück und saß wie betäubt da, während die Unterrichtsstunde träge über ihn hinwegrollte. Er hörte kein einziges Wort davon und war sich des Gekichers und der geflüsterten Sticheleien der Kinder rechts und links von ihm kaum bewußt. Der Brief wölbte sich unglaublich schwer und lastend in seiner Tasche. Irgendwie fühlte er sich heiß an. Das einzige, was seine Aufmerksamkeit gegen Ende der Stunde von diesem Brief ablenkte, war das wachsende Bewußtsein des Lärms vor den Fenstern, der immer lauter und lauter geworden war. Die anderen Leute waren in Bewegung. Sie rührten sich überall im Wald hinter der Schule, sie wogten rastlos hin und her, wie eine Flutwelle, die nirgendwo hinrollen konnte. Dieses Verhalten war ganz und gar nicht normal. Miss Fredricks und die anderen Kinder schienen nichts Ungewöhnliches zu hören, aber für Tommys Ohren war es deutlich genug, um seine Gedanken sogar von seinen gegenwärtigen Problemen abzulenken, und er starrte neugierig aus dem Fenster.
    Die erste Maßnahme der menschlichen Regierung der Erde – im Gegensatz zu der tatsächlichen Erdregierung: AI und ihre Partner-Intelligenzen – war der Versuch, die ganze Angelegenheit zu vertuschen. Der Drang, der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten, war so tief verwurzelt und gewohnheitsmäßig, daß er schon beinahe eine tropistische Reaktion darstellte: Es geschah so automatisch und unvermeidbar wie ein Gähnen. Es ist eine Tatsache, daß das

Weitere Kostenlose Bücher