Kopf in der Schlinge
bereits büschelweise Krokusse und Hyazinthen sprießen sehen. Ich setzte mich auf einen hölzernen Liegestuhl, während er mit einer Pflanzkelle die Erde umgrub. Das Erdreich war weich und feucht, und die Würmer, die durch seine Bemühungen gestört wurden, zuckten vor dem Eindringling zurück. Henrys Rosenbüsche waren kahle Stecken voller Dornen, an denen vereinzelte Blattknospen darauf hindeuteten, daß der Frühling vor der Tür stand. Die Wiese, die sich den größten Teil des Winters ausgeruht hatte, erwachte wieder zu neuem Leben, erquickt von den jüngsten Regenfällen. Dort, wo die jungen Halme nach und nach durch die braune Erde brachen, konnte ich grünen Flaum ausmachen. »Meist wird ja der Herbst mit dem Tod assoziiert, aber für mein Gefühl steht ihm der Frühling näher«, sagte Henry.
»Warum das?«
»Das hat keinen tiefschürfenden philosophischen Hintergrund. Mir sind nur einfach viele Menschen, die ich geliebt habe, zu dieser Jahreszeit gestorben. Vielleicht sehnen sie sich danach, aus dem Fenster zu schauen und frisches Laub an den Bäumen zu sehen. Es ist eine Zeit der Hoffnung, und das könnte schon genug sein, wenn man weiß, daß man vor dem Abschied steht. Es ermöglicht einem, loszulassen, weil man weiß, daß die Welt sich genauso weiterdreht wie immer.«
»Ich muß wieder nach Nota Lake«, sagte ich.
»Wann?«
»Irgendwann nächste Woche. Ich möchte lange genug hierbleiben, um meine Hand auszukurieren.«
»Warum willst du überhaupt wieder hinfahren?«
»Ich muß jemanden sprechen.«
»Kannst du das nicht telefonisch erledigen?«
»Am Telefon fällt den Leuten das Lügen zu leicht. Ich möchte Gesichter sehen«, sagte ich. Ich schwieg und horchte auf das vertraute Scharren seiner Pflanzkelle im Erdreich. Ich zog die Beine hoch und schlang die Arme um die Knie. »Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als man von >Schwingungen< gesprochen hat?«
Ich sah, wie Henry lächelte. »Hast du schlechte Schwingungen?«
»Die übelsten.« Ich hielt meine linke Hand in die Höhe und versuchte, die Finger zu beugen. Sie waren so steif und geschwollen, daß ich fast keine Faust zustande brachte.
»Fahr nicht. Du brauchst nichts zu beweisen.«
»Doch, Henry. Ich bin eine Frau. Wir müssen andauernd etwas beweisen.«
»Was zum Beispiel?«
»Daß wir hart im Nehmen sind. Daß wir genauso gut sind wie die Männer, was — wie ich erfreut bestätigen kann — gar nicht so schwer ist.«
»Wenn das stimmt, warum mußt du es dann beweisen?«
»Das bringt die Sache so mit sich. Nur daß wir es glauben, heißt noch lange nicht, daß die Männer es auch tun.«
»Wen kümmern schon Männer? Sei doch keine Macha.«
»Ich kann’s nicht ändern. Aber es geht ohnehin nicht um Stolz. Es geht um mein seelisches Gleichgewicht. Ich kann es mir nicht leisten, mich von irgendeinem Kerl dermaßen einschüchtern zu lassen. Glaub mir, irgendwo da oben in Nota Lake lacht er sich den Arsch ab, weil er sich einbildet, er hätte mich aus der Stadt vertrieben.«
»Der Ehrenkodex des Westens. Eine Frau muß tun, was eine Frau eben tun muß.«
»Es ist ein widerliches Gefühl. Die ganze Geschichte. Ich kann mich nicht erinnern, jemals solche Angst empfunden zu haben. Dieser Mistkerl hat mir richtig weh getan. Ich will ihm auf keinen Fall Gelegenheit geben, das zu wiederholen.«
»Wenigstens bist du frisch gegen Tetanus geimpft.«
»Ja, und davon tut mir immer noch der Hintern weh. Ich habe einen Knoten an der Hüfte, der so groß ist wie ein hartgekochtes Ei.«
»Und was bereitet dir Kopfzerbrechen?«
»Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist, daß mir die Finger ausgerenkt wurden, bevor ich überhaupt irgend etwas kapiert habe. Jetzt, wo ich der Geschichte näherkomme, frage ich mich, was der Kerl dann tun wird. Glaubst du, er geht unter, ohne zu versuchen, mich mitzunehmen?«
»Dein Telefon klingelt«, bemerkte er.
»Mein Gott, Henry! Wie kannst du das hören? Du bist sechsundachtzig Jahre alt.«
»Und zwar schon dreimal.«
Inzwischen war ich aufgestanden und hatte den Garten zur Hälfte durchquert. Ich hatte meine Tür offengelassen und nahm noch im Gehen den Hörer ab, gerade als sich der Anrufbeantworter einschaltete. Ich drückte auf Stop und schnitt so die Ansage ab. »Hallo, hallo, hallo.«
»Kinsey, sind Sie das? Ich dachte schon, es sei Ihr Band.«
»Hallo, Selma. Sie hatten Glück. Ich war draußen im Garten.«
»Tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß.«
»Kein Problem. Was gibt s
Weitere Kostenlose Bücher