Kopf in der Schlinge
Vielleicht hätte sein Bruder Macon die Sachen gern für sich. Ich würde Selma später danach fragen.
Ich durchsuchte zwei große Umschläge voller Plunder und nahm mir die Freiheit, bezahlte Strom- und Gasrechnungen von vor zehn Jahren wegzuwerfen. Eine zufällige Auswahl bewahrte ich auf, für den Fall, daß Selma das Haus verkaufen wollte und potentiellen Käufern die durchschnittlichen Unterhaltskosten nachweisen mußte. Ich ließ die Tür zum Arbeitszimmer offen und führte nebenbei eine Unterhaltung mit Selma in der Küche, während ich die Spreu vom Weizen zu trennen versuchte. »Ich hätte gern ein Foto von Tom.«
»Wozu?«
»Weiß ich noch nicht. Es erscheint mir nur ganz praktisch.«
»Nehmen Sie eines von denen an der Wand am Fenster.«
Ich blickte über die Schulter und entdeckte mehrere Schwarzweißfotos von ihm in verschiedenen Umgebungen. »Gut«, sagte ich. Ich legte den Papierstapel beiseite, den ich gerade sortierte, und ging auf die nächstgelegenen Bilder zu. Im größten Rahmen waren ein nicht lächelnder Tom Newquist und ein gewisser Sheriff Bob Staffer gemeinsam bei etwas abgebildet, das wie ein Festessen aussah. Mehrere Paare saßen an einem Tisch, der mit einem stattlichen Tafelaufsatz und der Nummer zwei auf einer Karte in der Mitte geschmückt war. Staffer hatte das Foto in der rechten unteren Ecke signiert: »Für den verflucht besten Fahnder in der ganzen Branche! Wie immer, Bob Staffer.« Datiert war es vom April vorigen Jahres. Ich nahm das gerahmte Foto von der Wand und hielt es gegen das nachlassende Licht, das zum Fenster hereinkam.
Tom Newquist war ein jugendlich aussehender Dreiundsechzig-jähriger mit kleinen Augen, einem runden, sanften Gesicht und dunklem, sich lichtendem Haar, das ganz kurz geschnitten war. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche, den ich seit Urzeiten von anderen Polizisten kannte — neutral, wachsam, intelligent. Es war ein Gesicht, das nichts über den Mann dahinter verriet. Wurde man als Verdächtiger verhört, so durfte man sich nicht täuschen — dieser Mann würde unangenehme Fragen stellen, und er gäbe einem keinen Hinweis darauf, welche Antworten einen von seiner Aufmerksamkeit erlösen würden. Machte man einen Witz, käme als Reaktion ein dünnes Lächeln. Unterstellte man ihm Gutmütigkeit, bräche sein Temperament erstaunlich heftig aus ihm heraus. Wurde man als Zeuge befragt, bekäme man eine andere Seite von ihm zu sehen — vorsichtig, mitfühlend, geduldig, gewissenhaft. Wenn er wiedie anderen Polizeibeamten aus meinem Bekanntenkreis war, so konnte er unerbittlich, sarkastisch und gnadenlos sein — alles im Interesse der Wahrheitsfindung. Egal in welchem Umfeld, die Worte »impulsiv« und »leidenschaftlich« kämen einem wohl kaum in den Sinn. Auf privater Ebene mochte er ganz anders sein, und ein Teil meiner Aufgabe hier war, herauszufinden, worin diese Unterschiede wohl bestanden. Ich fragte mich, was er an Selma gefunden hatte. Sie wirkte zu grell und zu emotional für einen Mann, der sich gut verstellen konnte.
Ich sah auf und stellte fest, daß sie in der Tür stand und mich beobachtete. Obwohl ihre Kleider teuer aussahen, hatte ihre Erscheinung etwas unbeschreiblich Billiges. Ihr Haar war bis zur Struktur einer Puppenperücke gebleicht worden, und ich fragte mich, ob ich wohl aus der Nähe einzelne Häufchen wie die Büschel von einer Haartransplantation ausmachen könnte. Ich hielt das Bild in die Höhe. »Kann ich das mitnehmen? Ich würde gern einen Ausschnitt und ein paar Abzüge davon machen lassen. Wenn ich seine Aktivitäten die letzten paar Monate zurückverfolgen soll, könnte das Gesicht dort etwas auslösen, wo ein Name zu nichts führt.«
»Einverstanden. Ich hätte vielleicht auch gern eines. Das ist ein schönes Bild von ihm.«
»Er hat nicht viel gelächelt?«
»Nicht oft. Erst recht nicht bei gesellschaftlichen Anlässen. Im Kreis seiner Freunde wurde er lockerer... bei den anderen Hilfssheriffs. Wie kommen Sie denn voran?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Bis jetzt habe ich nichts als Plunder gefunden.« Ich wandte mich wieder den Papierbergen vor mir zu. »Schade, daß Sie nicht diejenige waren, die sich um die Rechnungen gekümmert hat.«
»Ich habe kein Talent für Zahlen. Mathe habe ich schon in der Schule gehaßt«, sagte sie. Nach einem Moment fuhr sie fort: »Langsam bekomme ich Schuldgefühle, weil ich Sie in seinen Sachen herumschnüffeln lasse.«
»Zerbrechen Sie sich nicht darüber den Kopf. Das
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