Kopf in der Schlinge
Nun war ich am Bodensatz angekommen, und es war schwer zu entscheiden, wo ich weitermachen sollte. Ich hatte jegliche Begeisterung für das Projekt verloren, das mir schmutzig und sinnlos vorkam. An der einen Wand hatte ich sechs Pappschachteln aufgereiht. Darin befanden sich die Unterlagen, die ich beschriftet und sortiert hatte: alte Einkommensteuererklärungen, Garantiescheine, Versicherungspolicen, Vermögensbewertungen, mehrere Belege der Versorgungsbetriebe, Telefonrechnungen und Kreditkartenquittungen. Immer noch keine Spur von seinen Arbeitsnotizen, aber vielleicht hatte er sie ja im Büro liegenlassen. Ich nahm mir vor, Rafer danach zu fragen.
Ich stellte meinen Becher auf ein leeres Regalbrett, faltete eine neue Pappschachtel zusammen und begann Toms Schreibtisch auszuräumen. Ohne klares Ziel, sondern nur um Platz zu schaffen, legte ich Papiere in die Schachtel. Schließlich war ich als Ermittlerin hier, nicht als hauseigene Putzfrau. Nachdem ich den Schreibtisch ausgeräumt hatte, war mir wohler. Zum Beispiel konnte ich nun sehen, daß Toms Schreibtischauflage voller Kritzeleien war: Schnörkel, Telefonnummern, etwas, das nach Aktenzeichen von Fällen aussah, Comic-Hunde und — Katzen in verschiedenen Posen, Termine, Namen und Adressen sowie Zeichnungen von Autos, denen Flammen aus dem Auspuff loderten. Manche der Ziffern waren dreidimensional gestaltet, eine Technik, die ich auch manchmal anwandte, wenn ich telefonierte. Manche Daten waren mit Bleistift umrandet; manche waren mit unterschiedlicher Strichdichte nachgezogen und schraffiert. Ich brütete über alldem, als wären es Hieroglyphen, dann ging ich die Fläche Kritzelei für Kritzelei durch. Die Zeichnungen waren denen sehr ähnlich, die männliche Sechstkläßler zu meiner Zeit geliebt hatten: Dolche, Blut und Pistolen, die dicke Kugeln auf einen karikierten Kopf abfeuerten. Das einzige sich wiederholende Element war ein dicker Strick, der wie die Schlinge an einem Galgen geformt war. Tom hatte zwei davon gezeichnet: einen mit einer durchgestrichenen Telefonnummer in der Mitte und einen zweiten mit einer Zahlenreihe, gefolgt von einem Fragezeichen. In einer Ecke der Schreibtischauflage befand sich ein von Hand gezeichneter Kalender des Monats Februar mit ordentlich eingetragenen Zahlen. Ich überprüfte den Kalender rasch und stellte fest, daß er nicht mit dem Februar dieses Jahres übereinstimmte. Der erste fiel auf einen Sonntag, und die beiden letzten Samstage des Monats waren durchgestrichen. Ich nahm mir die Zeit, eine ausführliche Liste sämtlicher Telefonnummern und Aktenzeichen anzulegen.
Neugierig geworden, holte ich die Telefonrechnungen der letzten sechs Monate heraus, da ich hoffte, ich würde dort eine der Nummern finden. Ich wurde vorübergehend abgelenkt, als mir sieben Anrufe in das Gebiet mit der Vorwahl 805 auffielen, das sowohl Santa Teresa als auch das südlich davon gelegene Perdido County und San Luis Obispo im Norden umfaßt. Eine Nummer erkannte ich als die des Sheriffbüros von Perdido County. Dazu kamen sechs Anrufe bei einer anderen Nummer im Abstand von jeweils etwa zwei Wochen. Das letzte Datum stammte von Ende Januar, wenige Tage vor seinem Tod. Ganz spontan nahm ich den Telefonhörer ab und wählte die Nummer. Nach dreimaligem Klingeln schaltete sich ein Anrufbeantworter ein, und eine Frauenstimme erzählte das Übliche: »Leider bin ich momentan nicht zu erreichen, aber wenn Sie Namen, Nummer und eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie so bald wie möglich zurück. Lassen Sie sich ruhig Zeit und warten Sie bitte auf den Signalton.« Ihre Stimme war kehlig und älteren Jahrgangs, doch darüber hinaus erhielt ich keine Informationen. Ich wartete auf den Signalton, entschied mich dann jedoch dagegen, eine Nachricht zu hinterlassen, und legte auf, ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht war sie eine Freundin von Selma. Ich mußte mich danach erkundigen, wenn ich dazu kam.
Ich notierte mir die Nummer und machte mich wieder an die Arbeit, indem ich versuchte, die Nummern auf den Telefonrechnungen mit den Nummern auf der Schreibtischauflage zu vergleichen. Endlich hatte ich einen Erfolg zu verbuchen. Es sah ganz danach aus, als hätte jemand — vermutlich Tom — bei der Nummer angerufen, die ich durchgestrichen in einer der Schlingen entdeckt hatte, obwohl dort die Nummer ohne die Vorwahl 805 notiert worden war. Ich wählte nun meinerseits die Nummer, und am anderen Ende wurde von einem richtigen Menschen
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