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Kopf in der Schlinge

Kopf in der Schlinge

Titel: Kopf in der Schlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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abgenommen. »Gra-merey. Mit wem darf ich Sie verbinden?«
    »Gramercy?«
    »Ja, Ma’am.«
    »Ist dort das Gramercy Hotel in Santa Teresa?«
    »Genau.«
    »Tut mir leid. Dann habe ich mich verwählt.«
    Ich drückte auf die Gabel und unterbrach die Verbindung. Das war nun wirklich seltsam. Das Gramercy Hotel war eine miese Absteige an der unteren State Street. Warum sollten die Newquists dort anrufen? Ich umringelte die Nummer in meinen Aufzeichnungen, setzte ein Fragezeichen dahinter und machte mich erneut an die Durchsicht der Telefonrechnungen. Ich fand keine weitere Nummer, die auf den ersten Blick bedeutungsvoll ausgesehen hätte. Ich stellte eine zweite Pappschachtel auf den Schreibtisch und packte weiter ein.
    Um zehn Uhr legte ich eine Pause ein, um die Beine auszustrecken und ein paar Kniebeugen zu machen. Ich mußte noch die unteren Fächer ausräumen, von denen zwei hinter breiten Türen verborgen waren, die sich über die gesamte Breite der Bücherregale erstreckten. Ich beschloß, das Schlimmste gleich hinter mich zu bringen, ließ mich auf alle viere herab und begann, auf der linken Seite Kisten herauszuziehen. Die Lagerfläche war so geräumig, daß ich mit dem Kopf hineintauchen mußte, um bis in die hintersten Ecken zu kommen. Ich hievte zwei Kisten hervor, blieb gleich auf dem Fußboden sitzen und sah ihren Inhalt durch.
    Oben auf der zweiten Kiste stieß ich auf zwei dicke, blaue Ringbücher, die vielversprechend aussahen. Offensichtlich hatte Tom Kopien der meisten Berichte aus den Unterlagen des Sheriffbüros angefertigt. Vor mir lag ein Berg unaufgeklärter Kriminalfälle, bei denen die Ermittlungen noch nicht endgültig eingestellt worden waren, obwohl manche davon schon viele Jahre alt und die Kopien vergilbt waren. Diese Fälle wurden von den Detectives wieder aufgegriffen, wenn neue Informationen oder zusätzliche Hinweise ans Licht kamen. Ich blätterte sie interessiert durch. Sie umfaßten die Kriminalität in Nota Lake von 1935 bis heute. Selbst wenn man zwischen den Zeilen las, wurde deutlich, daß bei den frühen Fällen wenig Aufhebens um den Angeklagten gemacht wurde, und der Begriff der »Opferrechte« wäre ebenso als abwegige Vorstellung erschienen. Damals hatte das Opfer das Recht, vor Gericht auf Wiedergutmachung zu klagen. Heutzutage geht es bei einem Prozeß nicht mehr um Schuld oder Unschuld. Es ist eine Schlacht, in der die Gerissenheit zählt, in der rivalisierende Anwälte wie intellektuelle Gladiatoren ihr rhetorisches Können aneinander messen. Kennzeichen eines guten Strafverteidigers ist seine Fähigkeit, wie ein Taschenspieler jedes x-beliebige Bündel an Tatsachen zu nehmen und in solchem Licht darzustellen, daß das, was unumstößlich schien — Simsalabim — , zu einem Schwindel oder einem ausgeklügelten Komplott von seiten der Polizei oder der Regierung umgemünzt wird. Auf einmal steht der Täter als Opfer da, und der eigentliche Leidtragende wird dabei fast vergessen.
    »Kinsey?«
    Ich zuckte zusammen.
    Phyllis stand in der Tür.
    »Herrgott, haben Sie mich erschreckt«, sagte ich. »Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«
    »Tut mir leid. Ich gehe jetzt nach Hause. Kann ich Sie kurz sprechen?«
    »Sicher. Kommen Sie nur herein.«
    »Ungestört«, fügte sie hinzu und drehte sich auf dem Absatz um.

8

    Ich richtete mich auf und folgte ihr den Flur entlang. Hinter uns konnte ich Selma am Telefon mit jemandem plaudern hören. Phyllis öffnete die Haustür und ging auf die Veranda hinaus. Ich zögerte und gesellte mich schließlich zu ihr, während sie hinter uns die Tür schloß. Die Kälte war wie ein eisiger Windstoß. Der Himmel hatte sich zugezogen, und in der Ferne wallten schwere graue Wolken die Berge herab. Ich verschränkte die Arme und hielt die Füße dicht beieinander, um möglichst viel Körperwärme gegen den Ansturm des frostigen Wetters zu bewahren.
    Phyllis’ Bekleidung bestand aus luftigem Baumwollstoff und schien sich eher für ein sommerliches Grillfest zu eignen. Sie trug knöchelkurze Tennissöckchen, deren kleine Bommeln auf den Hacken ihrer Straßenschuhe ruhten. Keinen Mantel und keine Jacke. Sie sprach mit leiser Stimme, als würde Selma womöglich auf der anderen Seite der Tür lauschen. »Da ist etwas, das ich gern erwähnen würde, solange ich Gelegenheit dazu habe.«
    »Frieren Sie nicht?« fragte ich. Sie stand vor mir, die nackten Arme in einer dünnen Baumwollbluse, während ihr der Rock gegen die bloßen Beine wehte.

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