Kopf Unter Wasser
dem Nachbargrundstück nieder. Die Vögel stieÃen heisere, krächzende Laute aus. Henry warf die Zigarettenkippe in den Schnee und nahm die Taschen wieder auf.
An der Verandatür stand Birtes Mutter, eine kleine, schlanke Frau mit Kurzhaarfrisur, die einen schwarzen Hausanzug mit fernöstlichen Applikationen trug. Sie schien auf ihn gewartet zu haben, sie sagte: »Herzlich willkommen in unserem Haus.«
Henry stellte die Taschen ab und dankte ihr, dann gaben sie sich die Hand.
»Soll ich Ihnen was verraten?« Sie sah Henry erwartungsvoll an, wie ein aufgeregtes Kind.
Henry musste lachen. »Ja, bitte.«
»Ich habe mir sofort Ihr Buch besorgt, nachdem Birte uns von Ihnen erzählt hat. â Dass Sie beide ein Paar sind.«
»Ah.«
»Und wissen Sie was, es hat mir ganz ausgezeichnet gefallen. Wir in Korea haben ja ganz ähnliche Probleme, immer noch, da gibt es viele Parallelen.« Sie sprach ein nahezu akzentfreies Deutsch.
»Danke«, sagte Henry, »deswegen war ich seinerzeit auch in Seoul, wo ich Birte am Goethe-Institut getroffen habe.«
»Ich weiÃ, ich weië, sagte Birtes Mutter und tätschelte Henry den Ellbogen.
»Darf ich Ihnen auch ein Kompliment machen?«
»Ich höre?« Sie strahlte ihn an.
»Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch.«
»Das höre ich oft. â Ich habe schon sehr früh mit dem Unterricht angefangen, in der Schule, in Korea, als ich noch ein kleines Kind war.«
»Ach so.«
»Ich bin schon gespannt auf Ihr nächstes Buch. Birte hat uns verraten, dass Sie daran schreiben. â Wissen Sie, seit ich keinen Unterricht mehr gebe, habe ich sehr viel Zeit zum Lesen. Und für den Garten. Erst recht, seit Birte aus dem Haus ist. â Haben Sie Geschwister?«
»Nein, leider nicht.«
»Birte ist auch ein Einzelkind. Damals wollten wir kein zweites, aber im Nachhinein ⦠Vielleicht bekommt ja die Kleine noch ein Geschwisterchen. Irgendwann. â Ach, ich freue mich so. Ich bin so aufgeregt, als wäre es mein eigenes.«
»Ehrlich gesagt, hab ich auch ein bisschen Angst«, sagte Henry.
»Die brauchen Sie nicht zu haben. â Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Gästezimmer. Sie sind erschöpft von der Fahrt, und ich rede auf Sie ein wie ein Wasserfall.«
»Wo ist denn Birte?«, sagte Henry und nahm die Taschen wieder auf.
»Die hockt bestimmt mit ihrem Vater zusammen. Sie haben sich seit Weihnachten nicht gesehen und müssen sich wahrscheinlich viel erzählen.« Dann dämpfte sie die Stimme und sagte fast im Flüsterton: »Die beiden haben ein ganz besonderes Verhältnis, müssen Sie wissen. Schon immer.«
Vom Gästezimmer aus, das in der zweiten Etage des Hauses lag, konnte man die Elbe sehen, die breit und schwarz dahinfloss. Von Zeit zu Zeit fuhren riesige Containerschiffe vorbei. Das Zimmer besaà ein eigenes Bad und eine groÃe Flügeltür, durch die man auf eine überdachte Terrasse gelangte. Hier stand Henry zig Male am Tag, rauchte und sah auf das winterliche Wasser hinab. Birte war meist mit ihrem Vater unterwegs, der sich eigens Urlaub genommen hatte für die Zeit ihres Aufenthalts. Sie fuhren nach Hamburg, gingen in Museen und aÃen in Restaurants zu Mittag. Sie machten einen Tagesausflug nach Lübeck, wo sie das Günter-Grass-Museum besichtigten. Von der Seehundstation in Friedrichskoog brachte Birte einen Seehund aus Plüsch mit, einen weiteren Tag lang durchstreifte sie mit ihren Eltern die Kinderboutiquen der Innenstadt und kam mit einem Dutzend gefüllter Tüten zurück.
Henry lehnte mit Hinweis auf seine Arbeit stets dankend ab, wenn er gefragt wurde, ob er mitkommen wolle, und er hatte den Eindruck, dass dies vor allem Birtes Vater nicht unrecht war. Auch Birtes Mutter fuhr nach dem Frühstück mit ihrem eigenen Kleinwagen fort, um Besorgungen zu machen oder sich mit Freundinnen zu treffen, entweder in der Hamburger City oder in einem der voluminösen Häuser des Vorortes.
Wenn dann endlich Ruhe eingekehrt war, machte sich Henry einen Espresso, ging damit nach oben und setzte sich an den Biedermeiersekretär, der dort stand. Er klappte sein Notebook auf und öffnete das Textdokument, das den Namen »Zweites Buch« trug. Dann trat er mit dem Espresso auf die Terrasse, rauchte ein, zwei Zigaretten, und wenn er wieder ins Zimmer kam, war das Notebook schon in den Ruhezustand gefallen,
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