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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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während sie Zahlen in ihren Tischrechner eintippte. Dann öffnete sie eine Schublade des Schreibtisches, entnahm ihr ein laminiertes Blatt, auf dem Henry eine Tabelle erkannte, die Düsseldorfer Tabelle vermutlich, und fuhr mit der Spitze des rechten Zeigefingers die Spalten auf und ab. Sie tippte abermals etwas in den Tischrechner, legte die Tabelle in die Schublade zurück, schrieb etwas auf einen Notizblock, riss den Zettel schwungvoll ab, faltete ihn in der Mitte und reichte ihn Birte, die »Danke« sagte und den Zettel in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
    Â»Wie viel ist es denn?«, fragte Henry.
    Â»Das werden Sie bei Bedarf früh genug erfahren«, sagte die Frau, und an Birte gewandt: »Wollen Sie das Sorgerecht gleich mit erledigen?«
    Â»Nein, das machen wir später«, sagte Birte, während Henry synchron »Ja« sagte.
    Â»Gut, dann bereite ich die Dokumente vor, Sie unterschreiben und erkennen damit Ihre Vaterschaft an. – Das hat zum Beispiel den Vorteil für Sie, dass ein neuer Lebensgefährte Ihrer Frau nicht ohne Ihr Einverständnis Ihren Sohn adoptieren kann.«
    Â»Na prima«, sagte Henry, »im Übrigen hab ich eine Tochter.«
    Die Frau vom Amt sah erst zur Tür hinüber, wo der Kinderwagen mit der schlafenden Johanna stand, und dann auf die Geburtsurkunde: »Natürlich, Ihre Tochter.«
    Â»Und was ist jetzt mit dem Sorgerecht?«
    Â»Sie können jederzeit wiederkommen«, sagte die Frau vom Amt und sah dabei Birte an, »wann immer es Ihrer Lebensgefährtin passt.«
    Das war im Februar gewesen, an einem feuchten und zu warmen Wintertag, mit Matsch auf den nebligen Straßen.
    Im März, sie war neun Monate alt, gelang es Johanna zum ersten Mal, sich von außen an den Stäben ihres Gitterbettes hochzuziehen und ein paar Minuten freihändig zu stehen, ehe sie zur Seite wegknickte und auf den Teppich fiel. Eine Woche nach Entdeckung dieser neuen Fähigkeit konnte sie sich, an Wänden, Tischen, Stühlen abstützend, aufrecht durch die Wohnung bewegen. Henry besorgte einen Buggy, in dem sich Johanna von nun an sitzend durch die Gegend schieben ließ.
    Im Mai fuhr Birte mit Johanna für zwei Wochen zu ihren Eltern in den Hamburger Vorort. Es musste dort paradiesisch sein in dieser Jahreszeit, der riesige Garten mit den blühenden Bäumen, die Uferpromenade, der Jachthafen. Trotzdem kam sie zerknirscht und schlechter gelaunt zurück, als sie es vor Antritt der Fahrt gewesen war. Henry wagte nicht zu fragen, was passiert sei. Er wollte sich nicht die Konzentration auf die Arbeit verderben.
    Im Juni gelang es Henry zwar nicht, einen einzigen Artikel zu verkaufen, dafür durchbrach er in seinem Manuskript die 100-Seiten-Schallmauer. Auf Seite 101 stattete er seinen Protagonisten probehalber mit übersinnlichen Fähigkeiten aus, da ihn der knochentrockene Realismus seiner Erzählung allmählich selbst zu langweilen begann. Schnell verwarf er die Idee wieder, wollte sie sich aber als Möglichkeit für das Buchende offenhalten.
    Des Weiteren feierte Johanna ihren ersten Geburtstag, zu dem sie von Cynthia und Peter ein Dreirad und von Henry und Birte eine Puppenküche geschenkt bekam. Wenige Tage später begann ihre Eingewöhnungszeit im Kindergarten, und in der zweiten Juliwoche war sie mit der neuen Umgebung so vertraut, dass sie von neun bis zwölf dortbleiben konnte, ohne dass Birte oder Henry im Nebenraum warten mussten, um sie gegebenenfalls zu trösten.
    Anfang August schließlich verkündete Birte, dass sie am Ende des Monats ausziehen werde. Das kam einerseits überraschend, andererseits hatte Henry erwartet, dass sich der Zustand ihrer stagnierenden Beziehung irgendwann ändern würde. Und er hatte gewusst, dass dies nicht auf seine Initiative geschehen würde. Es war grotesk: Er war gleichzeitig enttäuscht und erleichtert, nachdem ihm Birte ihren Entschluss mitgeteilt hatte.
    Als sie ihm dann allerdings den Grund nannte, war er fast beleidigt, obwohl ihm klar war, dass dieser Grund möglicherweise nur vorgeschoben war, in der Absicht, seine sogenannten Gefühle zu schonen.
    Â»Es hat nichts mit uns zu tun, mit unserer Beziehung«, sagte Birte. Sie stand neben seinem Schreibtisch, Henry saß auf seinem Stuhl und ließ die Augen unkonzentriert über die Meldungen des Polizeitickers auf dem Bildschirm wandern.
    Er dachte: Wenn etwas schlimm war

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