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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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unseligen nächtlichen Anruf bei Birte begonnen hatte. Er musste die verdammte Zeit vergessen, durch die er sich seither geschleppt hatte: die Stagnation, die Melancholie, den Niedergang.
    Und er benötigte sofort ein wenig Geld, nicht um zu essen, der Appetit war ihm vergangen, sondern für ein Bahnticket in die Uckermark, für ein paar Stunden im Internetcafé, für eine Telefonkarte, für Zigaretten und ein, zwei Flaschen Wein, um sich die Nacht zu verkürzen.
    Henry ging runter auf die sommerliche Straße und dachte, was für ein Glück es war, dass man ihm den Strom zu dieser Jahreszeit abgeklemmt hatte. Er setzte sich in ein Straßencafé, bestellte ein Bier, beobachtete zurückgelehnt die Passanten, und wenig später gelang es ihm tatsächlich, zweihundert Euro aus dem Automaten einer obskuren Genossenschaftsbank herauszuholen.

25.
    Das letzte Gespräch führten sie am Morgen nach Henrys Telefonat mit Birte, kurz bevor sie losmussten, um noch pünktlich im Kindergarten zu sein. Sie standen auf dem Balkon, Henry trug Johanna auf dem Arm, und sie sahen gemeinsam auf die Ost-West-Magistrale hinunter, über die der frühe Berufsverkehr donnerte. Henry konnte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber das Gespräch ging ungefähr so:
    Â»Die haben alle Deutschlandfahnen auf dem Balkon.«
    Â»Ja, weil Fußballweltmeisterschaft ist.«
    Â»Aber wir haben keine, stimmt’s, Papa?«
    Â»Nein, wir haben keine.«
    Pause.
    Â»Aber dafür haben wir eine Windmühle, oder?«
    Â»Stimmt, wir haben eine Windmühle.«
    Â»Und die ist viel schöner, oder?«
    Â»Genau.«
    Pause.
    Â»Kann ich für immer bei dir bleiben, Papa?«
    Â»Wenn du größer bist, kannst du dir aussuchen, wo du wohnen willst.«
    Â»Wie groß?«
    Â»Na ja, mit zwölf Jahren vielleicht.«
    Â»Ist das noch lange?«
    Â»Ein bisschen dauert es noch.«
    Â»Schade.«
    Henry ließ den Termin verstreichen, den Birte ihm gesetzt hatte, obwohl er längst Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung hegte. Er war nervös gewesen am Tag des Ultimatums, er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, er wartete, dass sich Birte meldete, aber sie meldete sich nicht.
    Und er wartete am Mittwoch, ließ auch diesen Tag tatenlos verstreichen. Doch weder am Mittwoch hörte er von Birte noch am Donnerstagvormittag. Henry überlegte, dass sie seinen Anruf vielleicht gar nicht ernst genommen hatte. Sie hatte selbst behauptet, dass er betrunken sei und sie sich noch einmal über das Thema unterhalten sollten, wenn er wieder nüchtern war. Ja, ganz sicher hatte sie sein Gerede nicht ernst genommen und meldete sich deshalb nicht. Sie meldete sich nicht, weil alles beim Alten geblieben war, weil es war wie immer.
    Als er losging, um Johanna aus dem Kindergarten abzuholen, war für Henry nur diese eine Erklärung sinnvoll. Die Kindergärtnerin aber belehrte ihn eines Besseren. Sie sagte, Johanna sei bereits abgeholt worden, von einem jungen Mann, dem Birte eine Vollmacht ausgestellt habe. Sie sagte, der junge Mann habe dies schon des Öfteren getan, und sie sagte, Birte habe kraft des Sorgerechtes, das allein sie besitze, verfügt, dass Henry ab sofort nicht mehr berechtigt sei, seine Tochter mitzunehmen.
    Die Kindergärtnerin sagte, sie wolle nicht wissen, was Birte zu diesem Schritt veranlasst habe, aber es tue ihr leid für ihn, der seine Tochter stets sauber gekleidet und pünktlich gebracht habe. Angesichts der neuen Umstände aber bestehe kein Grund mehr für Henry, das Gebäude des Kindergartens sowie den Garten zu betreten. Sie hoffe, dass das eines Tages wieder anders werde, und wünsche ihm bis dahin alles Gute.
    Und damit hatte Henrys Untergang begonnen.
    Von den zweihundert Euro der Genossenschaftsbank kaufte er sich ein Bahnticket und eine Telefonkarte. Im türkischen Imbiss erstand er eine Flasche Raki und löste seine gefälschte Rolex wieder aus. Der wilde Mann mit dem Kebabsäbel sagte zum Abschied: »Mach’s gut, Nachbar.«
    Henry trank den Schnaps in der dunklen Küche, während er beobachtete, was sich hinter den Fenstern des Hinterhauses tat. Doch alle Fenster blieben dunkel, und wenn es überhaupt noch Bewohner dahinter gab, hatten sie zumindest aufgegeben, dem Wildwuchs des Efeus mit Scheren zu begegnen. Auch das Gestrüpp im Hof wucherte, die Büsche bei den

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