Kopfloser Sommer - Roman
und zugeworfen wird. Schleicht er sich davon? Will er doch nicht hier übernachten?
Ich springe aus dem Bett und gehe ans Fenster. Ziehe die Gardinen zur Seite und sehe ihn zwischen den Bäumen verschwinden. Merkwürdig. So spät fahren weder Züge noch Busse, er wird den größten Teil des Wegs in die Stadt laufen müssen. Warum hat er sich nicht einfach ein Taxi gerufen? Oder bis morgen früh gewartet? Und wieso geht er wieder in den Garten? Vielleicht will er sich ein letztes Mal von ihm verabschieden. Bestimmt steht er jetzt irgendwo und saugt alles mit seinen braunen, hervorstehenden Augen auf. Und ich habe gedacht, er würde mich vergewaltigen, mich mit dem Kopf nach unten an einen Baum hängen und mir die Gedärme rausreißen, um sie dann roh zu fressen. Einer Vierzehnjährigen ist so etwas tatsächlich mal passiert, allerdings in den USA. Aber ich bin nicht in Amerika, sondern in Südseeland. Doch kommt man offenbar auf derartige Gedanken, wenn man so veranlagt ist wie ich und in den langen Sommerferien nichts zu tun hat.
Ich lege mich wieder ins Bett. Wenn es hier still ist, dann ist es wirklich still. Lediglich ein sonderbares Knirschen der Bodendielen ist zu hören. Es klingt, als würde irgendwo unter uns eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Aber es gibt keinen Keller unter meinem Zimmer, es ist also nicht möglich. Wir haben Frau Larsen schon Bescheid gegeben, aber sie meint, die Dielen würden ›arbeiten‹: Im Winter ziehen sie sich zusammen, und im Sommer dehnen sie sich aus. Wenn wir uns nicht daran gewöhnen, könne sie gern kommen und ein bisschen Öl in die Ritzen gießen. Das sollte helfen, dann würden die Dielen nicht mehr knarren. Im Grunde ist es lächerlich, aber es ist so unheimlich still und dunkel, dass mir nicht zum Lachen ist. Und oben im Badezimmer hört es sich manchmal so an, als würde jemand auf dem Dachboden herumlaufen. Natürlich ist dort niemand, es sind keine Schritte, es klingt nur so. Mutter hat es in ihrem Schlafzimmer auch gehört, doch laut Frau Larsen handelt es sich lediglich um Hausmarder. Die seien auf dem Lande weit verbreitet. Ich habe noch nie einen Hausmarder gesehen, aber vielleicht sind sie sehr groß und haben noch größere Füße. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt einen Hausmarder sehen möchte; eigentlich will ich gar nicht mehr hier sein. Ich verstehe nicht, warum wir hier wohnen müssen, wir kämen mit einer kleineren Wohnung in der Nähe der Stadt ausgezeichnet zurecht. Jacob geht es trotz des Lichts und der Luft auch nicht besser, aber angeblich kann er sich hier wie ein ›richtiger‹ Junge entfalten. Ich weiß nicht, wieso Erwachsene sich vorstellen, dass all dies nötig ist, damit es den Kindern besser geht.
Anfangs hatte Jacob sich über den großen Garten gefreut; er grub Löcher in die Erde, schoss mit Pfeil und Bogen und kletterte auf Bäume. Er tat alles, was man in der Stadt nicht tun kann. Doch dann fiel er von einem Baum und hat sich wehgetan – und jetzt bleibt er meist im Haus. Er sitzt viel vor dem Fernseher und Mutter soll möglichst in seiner Nähe sein. Tatsächlich ist er noch wehleidiger geworden, als er ohnehin schon war. Manchmal tut er mir richtig leid. Was hat er vorhin zum Beispiel wieder für einen Unfug erzählt? Von einem Mann, der meiner Collage entsprungen und in den Garten gegangen ist? Sollte es sich tatsächlich um denselben Mann handeln, der in unserem Wohnzimmer mit Mutter Wein getrunken hat? Allein die Vorstellung …
Aber vielleicht kommt er ja noch einmal zurück und schaut auch in mein Fenster? Wenn ich schlafe? Ich ziehe die Gardine zu und krieche wieder unter die Decke.
Doch das ist keine gute Idee, denn wenn die Gardine zugezogen ist, kann ich nicht sehen, ob er im Garten ist. Ich setze mich auf. Alles totaler Blödsinn, selbstverständlich steht er nicht dort draußen. Ich muss mich zusammenreißen, sonst fange ich noch an, mich aufzuführen wie Jacob. Ich lege mich hin und beschließe, nicht mehr daran zu denken.
Wenn Vater uns abholen kommt, soll er sich meine Collage ansehen. Er wird sie mögen, er versteht mich. Und er freut sich jedesmal, wenn ich ihn frage, ob ich bald zu ihm ziehen kann. Dann umarmt er mich und sagt, er vermisst mich. Er kann mich lange im Arm halten, ohne etwas zu sagen. Allein aus diesem Grund vergesse ich nie, ihn zu fragen – ich hoffe, ich bekomme auch bald eine Antwort. Denn sobald ich ein konkretes Datum hören will, erklärt er, dass wir mit
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