Kopfloser Sommer - Roman
nüchtern. Auch die Untreue.
»Könnte doch sein, dass dein Vater einen Grund hat fremdzugehen? Im Übrigen hilft so etwas manchmal auch einer bröckelnden Beziehung.«
Das ist eine von Amalies typischen Bemerkungen. Ihre Mutter ist die Briefkastentante einer Frauenzeitschrift, und Amalie liest alle ihre Antworten. Wenn Freundinnen bei Amalie zu Besuch sind, liest sie uns die Antwortschreiben manchmal vor. Es gibt kein Sex- oder Eheproblem, zu dem Amalie keine Meinung hätte.
»War es falsch, meiner Mutter diesen Brief zu schreiben?«
»Du hättest stattdessen zu deinem Vater gehen sollen. Das hätte ich getan.«
»Du kennst meinen Vater nicht. Er wäre wütend auf mich geworden. Und wer sagt denn, dass er dann aufgehört hätte fremdzugehen? Stell dir mal vor, er hätte weitergemacht und ich wäre die Einzige gewesen, die davon wusste und hätte nichts sagen dürfen!«
Amalie schätzt meinen Vater anders ein. Kann sein, dass sie recht hat. Aber ich habe trotzdem nicht gewagt, es zu sagen, und ich traue mich noch immer nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass er mich so oft ermahnt hat, ehrlich zu sein und nicht zu lügen. Hätte ich seine Untreue entlarvt, wäre es ihm sehr peinlich gewesen; er hätte sich gedemütigt gefühlt, da bin ich sicher.
Bei Amalie ist die Mutter fremdgegangen. Ihr Vater fand es heraus und hat es ihr mit gleicher Münze heimgezahlt. Erst als seine Geliebte Schluss machte und sich einen anderen Liebhaber suchte, bei dem es sich zufälligerweise um den Liebhaber von Amalies Mutter handelte, wurde die Angelegenheit vollkommen verrückt. Amalies Eltern waren mit einem Schlag beide allein und standen ziemlich dumm da. Es endete mit der Scheidung. Für mich hört sich das furchtbar an, denn wenn man sich in einer Liebesbeziehung nicht treu ist, dann kann man es auch gleich lassen. Es darf keine Geheimnisse geben, es muss vollkommenes Vertrauen herrschen.
Amalie ist nicht meiner Ansicht. Sie behauptet, es gebe viele Arten von Liebesbeziehungen und keine sei die einzig wahre. Wir gehen in dieselbe Klasse, aber sie ist fast ein Jahr älter und erfahrener als ich. Sie hatte bereits vier Freunde. Ich nur zwei, und das waren nicht einmal ›richtige‹ Freunde, wie Amalie es nennt, denn ich bin mit ihnen nicht im Bett gewesen. Ich habe nur geknutscht. Vor allem mit Amalies älterem Bruder, in den ich noch immer ein bisschen verliebt bin.
»Überleg mal, wie viele unserer Klassenkameraden geschiedene Eltern haben«, sagt Amalie. Beinahe die Hälfte. Und irgendwie haben sie es alle überlebt, ihr Leben ging weiter. Auch ich sollte es schaffen können.
Die meisten Sorgen mache ich mir jedoch nicht um mich. Wie Mutter immer sagt, haut mich so leicht nichts um, jedenfalls stehe ich ziemlich schnell wieder auf. Schlimmer steht es um meinen kleinen Bruder. Die Scheidung war ein Schock für ihn, und wie es aussieht, hat er das Ganze noch immer nicht überwunden.
Meine Eltern haben sich eigentlich Mühe gegeben, sie haben wirklich versucht, es uns so schonend wie möglich beizubringen. An einem Samstagnachmittag riefen sie uns ins Wohnzimmer, auf dem Tisch stand eine Kanne heißer Schokolade. Sie lächelten uns beruhigend zu und redeten abwechselnd. Aber sie mussten nicht sehr viele Worte sagen, bis wirmerkten, worauf es hinauslief, und Jacob anfing zu weinen.
»Wieso habt ihr euch zerstritten?«, fragte er. »Könnt ihr nicht wieder Freunde werden?« Es war herzzerreißend. Vater versicherte uns, dass sie sich nicht gestritten hätten, sie würden sich nur nicht mehr lieben. Deshalb wollten sie sich scheiden lassen. Wir Kinder sollten bei Mutter bleiben, wir sollten nicht getrennt werden, vorläufig jedenfalls nicht.
»Und was wird mit der Wohnung?«, wollte ich wissen. »Wer bekommt die?« Sie hatten darüber gesprochen und waren sich einig. Die Wohnung sollte verkauft werden, denn weder Mutter noch Vater konnten es sich leisten, allein darin zu wohnen.
Jacob war untröstlich. Nicht genug, dass unsere Eltern sich scheiden lassen wollten, nun sollten wir auch noch umziehen! Er verstand es nicht. Sie versuchten, ihn zu beruhigen, ich auch. Abends fragte mich Mutter, ob Jacob bei mir schlafen dürfe. Es würde ihn vielleicht ein wenig beruhigen, außerdem wäre es doch Samstag, und wir müssten am nächsten Morgen nicht früh raus. Ich konnte schlecht ablehnen, obwohl ich ihm normalerweise nicht erlaubte, bei mir zu schlafen. Aber er tat mir wirklich leid. Nachdem wir das Licht ausgeschaltet
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