Kopfloser Sommer - Roman
Muttersprechen müssten. Und sie meint, Jacob würde seine große Schwester vermissen, daher sollten wir abwarten, bis es Jacob besser geht und er wieder auf dem Damm ist.
Wenn ich wissen will, wann Jacob wieder ›auf dem Damm‹ ist, erklärt Mutter, dass die Sommerferien ihm sicher guttun werden. Nicht, weil in den Ferien irgendetwas Besonderes passiert. Sondern gerade weil nichts geschieht, darauf legt sie sehr großen Wert. Ihrer Meinung nach hat sich in letzter Zeit genug ereignet.
»Wie wenig soll denn passieren?«, frage ich nach.
»So wenig wie möglich«, erwidert sie. »Es ist durchaus gesund, sich zwischendurch mal zu langweilen. Das gilt auch für dich, Emilie.«
Natürlich hätte ich fragen sollen, ob das auch für sie gilt. Aber so schlagfertig bin ich nicht. Auf jeden Fall freue ich mich auf ihren Gesichtsausdruck morgen früh, wenn ich ihr erzähle, dass unser Gast mitten in der Nacht verschwunden ist.
3
Wie so oft, wenn ich zu Bett gegangen bin, denke ich an Vater. Ich stelle mir vor, dass ich bei ihm wohne. Ich kann Stunden damit verbringen. Und doch gibt es ein paar Dinge, an die ich lieber nicht denken will. Dann verliere ich die Lust, zu ihm zu ziehen.
Vor allem, dass er eine heimliche Geliebte hatte, als er noch mit Mutter verheiratet war. Ein paar Jahre lang. Wieso hat er es nicht einfach zugegeben und die Konsequenzen gezogen? Er wird mir so fremd, wenn ich daran denke. Mutter hatte einen Verdacht, aber er hat es rundweg abgestritten. Er hat sie sogar beschimpft und eifersüchtig genannt, weil sie kein Vertrauen zu ihm habe. Trotzdem wurde sie den Verdacht nicht los, es hat sie fast in den Wahnsinn getrieben.
Wahrscheinlich wäre sie wirklich verrückt geworden, wenn sie nicht ein bisschen Hilfe bekommen hätte. Sie erhielt einen anonymen Brief, in dem stand, dass ihr Mann eine Geliebte hat. Auch der Name und die Adresse der Frau standen in dem Brief, es fiel Mutter also nicht schwer, alles auffliegen zu lassen. Vater schämte sich, gleichzeitig tobte er allerdings, denn wer war dieser anonyme Briefschreiber? Er wusste es nicht, und Mutter auch nicht. Und ich habe nichts gesagt.
Eines Abends hatte ich auf dem Heimweg vom Kino gesehen, wie mein Vater in einer Einfahrt eine andere Frau küsste. Es war einer der schlimmsten Augenblicke meines Lebens. Er hatte eine Hand an ihrem Hintern, und zwischen den Küssen rückte sie das rote Halstuch zurecht, das Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Wie konnte er so etwas tun? Sie warnicht einmal besonders hübsch, beinahe ein bisschen quallig; ich begriff nicht, was er von ihr wollte.
Ich blieb auf der anderen Straßenseite stehen und beobachtete die beiden, und als sie weitergingen, ging ich ihnen nach. In einer Seitenstraße traten sie in ein Treppenhaus. Im dritten Stock wurde das Licht eingeschaltet. Ich notierte mir den Namen der Frau, der an der Gegensprechanlage stand, und ihre Adresse. Noch wollte ich es nicht glauben. Doch als Vater ein paar Tage später zu Mutter sagte, er würde ins Hallenbad gehen, folgte ich ihm. Sie trafen sich wieder. Und sie gingen nicht schwimmen, sondern zu ihr. Es war also wirklich wahr. Mein Vater hatte eine Geliebte, es gab keinen Zweifel.
Aber ich traute mich nicht, es Mutter zu erzählen, denn was würde passieren, wenn sie Vater gegenüber verriet, woher sie ihre Informationen hatte – zum Beispiel bei einem Streit oder wenn sie etwas getrunken hatte. Ich war sicher, dass er mich hassen würde.
Ich brauchte lange, um zu entscheiden, was ich tun sollte. Doch Mutter sollte wissen, dass sie recht hatte. Sie tat mir wirklich leid, wenn ich mit ansehen musste, wie sie im Schlafzimmer stand, sich mit der Faust an die Schläfe schlug und sich Vorwürfe machte: Es wäre alles ihre Schuld, sie sei verrückt! Das war sie eben nicht, sie hatte durchaus Anlass, eifersüchtig zu sein.
Ich würde Vater natürlich gern erzählen, wer den Brief geschrieben hat. Besonders, wenn Jacob im Bett liegt und wir uns abends unterhalten. Ein paar Mal war ich kurz davor, dann wäre die Geschichte endlich aus der Welt gewesen. Aber ich habe es bisher nicht fertiggebracht, denn wie wird Vater reagieren? Vielleicht hasst er mich danach. Dann wäre es schwierig, bei ihm zu wohnen.
Amalie ist die einzige Freundin, mit der ich meine Sorgen teilen kann. Ihr Vater hat auch eine andere Frau und ist ausgezogen, in diesen Teil der Geschichte kann sie sich also gut hineinversetzen. Außerdem betrachtet sie viele Dinge ausgesprochen
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