Kopfloser Sommer - Roman
hatten, fragte er mich immer wieder, warum unsere Eltern sich scheiden lassen wollten. Ich wiederholte nur, was sie gesagt hatten und streichelte ihm sanft den Rücken.
Als er endlich schlief, spürte ich, dass ich trauriger war, als ich gedacht hatte. Es waren ja nicht nur Jacobs, sondern auch meine Eltern, die sich scheiden ließen. Was sollte aus mir werden, was bedeutete das? Wie würde es sein, wenn wir Vater sehr viel seltener sahen? Ich wusste es nicht und musste die Leselampe am Schreibtisch einschalten, weil ich nicht im Dunkeln liegen wollte. Und wie so oft, wenn ich traurig bin, fing ich an zu zeichnen. Ich zeichnete Seerosen, das bringtmich normalerweise auf andere Gedanken. Und ich war inzwischen richtig gut, ich hatte sehr viele Seerosen gezeichnet, meist gelbe, aber auch weiße. Doch dieses Mal starrten sie mich nur leer und gleichgültig an; es brauchte mehr, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
Ich wollte noch ein bisschen lesen und hatte das Gefühl, es sollte etwas Unheimliches sein. Damals, als Amalies älterer Bruder ein Mädchen aus der Zehnten küsste, hatte ich mir im Fernsehen einen Film über Vampire angesehen. Danach fühlte ich mich irgendwie besser. Den Fernseher im Wohnzimmer wollte ich aber mitten in der Nacht nicht anstellen, und in meinem Zimmer hatte ich keinen Apparat. Ich habe noch immer keinen Fernseher, weil Mutter strikt dagegen ist. Doch in einem Buch mit Schauergeschichten fand ich eine Erzählung von Edgar Allan Poe, sie hieß Das Fass Amontillado . Und als ich die letzte Seite umblätterte, ging es mir besser. Die Geschichte endet damit, dass ein Mann tief unter der Erde lebendig eingemauert wird. Das war trotz allem noch schlimmer als die Scheidung meiner Eltern. Außerdem hatte ich ein weiches Bett zum Schlafen.
Es wurde trotzdem schlimm genug. Denn wie sich herausstellte, war es gar nicht so leicht für meine Eltern, sich scheiden zu lassen. Es gab ein ganz praktisches Problem. Die Wohnung wurde zum Kauf angeboten, aber niemand wollte sie kaufen. Sie wurde in der Zeitung und im Internet annonciert, und es kamen auch ein paar Leute, um sie sich anzusehen, aber sie war ihnen zu teuer. Es war einfach nicht möglich, sie zu verkaufen, es sei denn, meine Eltern gingen kräftig mit dem Preis herunter. Der Wohnungsmarkt sei total am Boden, hieß es. Ein Ausdruck, den ich von nun an oft zu hören bekam und auf den sich die meisten unserer Probleme zurückführenließen. Der Wohnungsmarkt war total am Boden.
Abends rechneten meine Eltern mit tiefen Furchen auf der Stirn, denn die Zahlen sahen nicht gut aus. Ein Steuerberater besuchte uns, doch davon wurden die Zahlen auch nicht besser. Ein Verkauf hätte einen gehörigen wirtschaftlichen Verlust zur Folge gehabt, und da meine Eltern der Bank bereits Geld schuldeten, kam ein Verkauf unter diesen Umständen nicht in Frage. »Das hätten Sie doch voraussehen müssen«, erklärte der Steuerberater, als meine Eltern sich lautstark beklagten. Nun ja, dass der Handel mit Immobilien stagnierte, wussten sie durchaus, aber dennoch überraschte es sie, wie schlimm es darum stand. Auch ein Wechsel des Wohnungsmaklers half nichts.
Nach einer Reihe von Gesprächen und einigem Hin und Her wurden Jacob und ich wieder ins Wohnzimmer gerufen. Wie beim ersten Mal war es ein Samstagnachmittag – allein das verhieß nichts Gutes. Schlechte Neuigkeiten wurden immer vor dem Sonntag verkündet, weil wir am nächsten Tag nicht früh aufstehen und in die Schule mussten. Vielleicht bin ich deshalb Samstagnachmittags immer so nervös.
Diesmal bekamen wir kalten Holundersaft. Beide lächelten etwas angestrengt und erklärten, ihre Pläne würden sich notwendigerweise ein wenig ändern. Aber wir sollten Ruhe bewahren, alles werde sich schon regeln.
Die Neuigkeit bestand darin, dass sie sich doch nicht scheiden lassen wollten. Jedenfalls nicht sofort; es sei schlichtweg zu teuer. Möglich wäre es frühestens in einem halben Jahr, bis dahin würde der Wohnungsmarkt wieder in Schwung kommen. Zumindest nach Ansicht des Maklers.
Jacob freute sich. Er dachte wohl, dass ein halbes Jahr sehr lang ist und Vater und Mutter in dieser Zeit wieder gute Freunde werden würden. An ihrem Beschluss habe sich allerdings nichts geändert, betonten sie. Die Scheidung stünde fest, sie sei nur verschoben. Vater erklärte, es gäbe da etwas, das Finanzkrise genannt würde. Und die Finanzkrise hätte Schuld an der Immobilienkrise. Daher seien sie gezwungen, noch
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