Kopfloser Sommer - Roman
vielleicht erzählt er ja noch mehr.
»Was ist damals mit deinen Eltern passiert?«
»Sie waren segeln. Am nächsten Tag wurde das treibende Boot gefunden, leer.«
»Und deine Eltern?«
»Sie sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Es ist jetzt gut zwei Jahre her, und die Polizei will nicht mehr nach ihnen suchen. Die Polizei meint, dass sie höchstwahrscheinlich tot sind.« Er seufzt und verzieht das Gesicht. »Es war ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt, um die Eltern zu verlieren.Okay, wir hatten ein paar Auseinandersetzungen und ziemlich heftige Meinungsverschiedenheiten. Aber wir hatten gerade wieder angefangen, miteinander zu reden, sozusagen auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt. Das hat es leichter gemacht, für sie wie für mich. Und dann passierte es …«
Ich würde gern wissen, was für Meinungsverschiedenheiten sie hatten, aber ich merke, dass ich besser nicht fragen sollte. Er ist den Tränen nahe, und ich will nicht, dass er gleich wieder anfängt zu heulen.
»Darf ich dieses Bild mal sehen? Oder ist es auch zu unheimlich für mich?«, fragt er.
Ja, natürlich, ich habe gehofft, dass er fragen würde. Wir gehen in den Flur und hören Mutter und Henriette im Wohnzimmer. Sie plaudern und lachen laut, Musik läuft. Haben sie den ernsthaften Teil ihres Treffens bereits hinter sich? Das wäre schnell gegangen. In meinem Zimmer hole ich die Collage aus dem Versteck unter dem Bett und falte sie auf dem Schreibtisch auseinander. Anders schaut sie sich lange an, aber anders als Mutter. Erst lächelt er überrascht, fast wie bei einem freudigen Wiedersehen. Dann sagt er, dass ihm das Bild gefällt. Und wird ganz still und nachdenklich.
»Du schilderst die Wirklichkeit nicht, wie sie ist«, sagt er, »sondern wie du sie empfindest. Stimmt doch, oder?«
Ich nicke, es klingt gut. Allerdings hört es sich auch nicht ungefährlich an, denn vielleicht verrät das Bild ja mehr über mich, als ich preisgeben möchte.
»Aber es gibt da noch etwas, worüber du mit deinen Eltern reden solltest.«
Bestimmt hat er recht, aber ich tue so, als wüsste ich nicht, was er meint.
»Du trägst eine Wut in dir, Emilie, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Das sieht man dem Bild an, und ich spüre es.Du musst diese Wut herauslassen, sonst zerbricht irgendetwas in dir.«
»Aber ich bin nicht wütend.«
»Ich glaube schon. Sehr sogar.«
»Nein. Ich bin lediglich in einer hoffnungslosen Situation und habe keine Ahnung, wie ich wieder herauskommen soll. Das ist alles.«
»Wie, hoffnungslos?«
»Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Wo ich hingehöre. Aber ich mache niemandem einen Vorwurf.«
»Du wendest die Wut gegen dich selbst, doch das führt nur zu Verzweiflung und Mutlosigkeit. Das ist ein Klassiker, Emilie, aber es ist nicht gut, es ist ungesund. Deine Eltern können es durchaus ertragen, wenn du ihnen die Wahrheit sagst.«
»Die Wahrheit?«, wiederhole ich spöttisch ‒ ich weiß wirklich nicht, was er damit meint. Und es irritiert mich, dass er mir mit seinem Psychogeplapper imponieren will. Er soll normal mit mir reden, und mich nicht so musternd ansehen, ohne etwas zu sagen.
Offenbar spürt er meine Irritation, denn er schüttelt müde den Kopf, gibt mir einen Gutenachtkuss und geht ins Gästezimmer. So war das nun auch wieder nicht gemeint. Ich bin ziemlich enttäuscht, dass er mich wie ein Kind behandelt. Heute Nachmittag, als wir in der Höhle saßen, haben wir uns doch einen Blick zugeworfen und ich habe ihn zum Erröten gebracht. Ist er trotzdem nicht an mir interessiert? Es ist bald ein Jahr her, dass ich meine erste Menstruation hatte, außerdem habe ich ein künstlerisches Talent, das hat er selbst gesagt. Wie kann er jetzt einfach gehen?
Vielleicht ist ja an Anders’ Satz über die Wut was dran. Ich bin wütender, als ich zugeben mag. Und wenn ich seinen Respekt gewinnen will, muss ich daran arbeiten. Ich muss dieses Gefühl der Wut akzeptieren und zeigen. Aber was lässt mich wütend werden? Jacob vielleicht ‒ dass sich alles immer nur um ihn dreht? Ich bin seine blödsinnige Empfindsamkeit leid. Außerdem irritiert mich Mutter und ihr Flirten. Und Vater will mir ständig irgendetwas vorschreiben, hat aber nie Zeit für mich. Kein Mensch hört mir wirklich zu, aber ich habe doch auch das Recht, hier zu sein, ich habe auch meine Bedürfnisse. Wenn ich allerdings auf sie aufmerksam mache, fühle ich mich wie ein schlechter Mensch. Aber vielleicht ist das gar kein Egoismus, vielleicht ist es
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