Kopfloser Sommer - Roman
ja vollkommen in Ordnung? Mir steigen Tränen in die Augen, jetzt bin ich wieder betrübt. Nur führt das zu keiner Lösung, Anders hat recht. Ich bin eher traurig als wütend. Ich muss dieses Gefühl in Wut umwandeln. Die Frage ist nur, wie? Anders muss es mir zeigen, er kann mir helfen. Wenn noch Zeit genug ist, bevor er weiter muss. Ich muss mit ihm noch einmal unter vier Augen sprechen. Bald.
Ich lege mein Ohr an die Wand zum Gästezimmer. Es ist vollkommen still, und das beunruhigt mich. Er wird doch wohl nicht ins Wohnzimmer gegangen sein? Die beiden Weiber würden sich auf ihn stürzen und ihn verführen. Das haben sie doch den ganzen Abend über ausgebrütet, ich bin doch nicht blöd. Es ist absolut widerlich, sie könnten beide seine Mutter sein, außerdem sind sie betrunken. Ich sehe es vor mir, wie sie ihm das Hemd vom Körper reißen und ihn aufs Sofa werfen. Henriette schwingt ihre Brüste vor seinen Augen. Dann küsst sie ihn, während Mutter seine Hose aufknöpft. Ich hoffe wirklich, dass er stark genug ist, um sich zu befreien und ihnen eine Ohrfeige zu versetzen – oder wenigstens mich zu rufen. Zum Glück wird jetzt eine Schranktür geöffnet, er ist doch in seinem Zimmer. Und das Bett knarrt.Vermutlich sitzt er gegen das Kopfteil gelehnt und liest. Oder er blickt in die Dunkelheit. Er mag die Dunkelheit, dabei kann er besser denken, sagt er, und er denkt über irgendetwas nach. Worüber? Vielleicht über das nette Mädchen im Zimmer nebenan? Er will nur nicht zu stürmisch vorgehen, sicher hat er Angst, mich zu erschrecken. Vielleicht hat er auf der anderen Seite sein Ohr ebenfalls an die Wand gelegt, vielleicht sogar an die gleiche Stelle. Mein Ohr brennt, ich nehme den Kopf von der Wand.
Dann lasse ich mein Bett absichtlich knarren. Halte den Atem an und warte. Hört er mich? Versteht er? Endlich knarrt es auch in seinem Zimmer. Das Blut klopft in meinen Schläfen, rasch knarre ich zurück. Bald knarren unsere Betten abwechselnd, als würden sie sich unterhalten. Es ist komisch, aber auch ein bisschen pikant. Ob er das auch so sieht, oder geht es nur mir so? Mir wird schwindlig bei dem Gedanken, ich muss einen Moment still liegen und verschnaufen. Er vermutlich ebenfalls, jedenfalls kommen keine weiteren Geräusche aus seinem Zimmer.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagelegen habe. Plötzlich habe ich das Gefühl, als hätte ich einen Purzelbaum gemacht und stünde im Wohnzimmer. Mich wundert nicht einmal, wie ich hierhergekommen bin. Mir bietet sich ein grauenvoller Anblick: Anders und Henriette liegen nackt auf dem Sofa. Er hat den Kopf zwischen ihren Brüsten und gibt schmatzende Geräusche von sich, als würde er etwas essen. »Was findest du an ihr?«, will ich wissen. Er hebt den Kopf und sieht mich mit roten Wangen und glänzenden Augen an: »So viel Fleisch und keine Kartoffeln!«
Henriette drückt ihm zum Dank für das Kompliment einen Kuss auf die Stirn und schiebt seinen Kopf zurück an ihre Brüste, hinunter zum Bauch. Und dann noch tiefer, bis zwischen die Beine. Ich schrecke ruckartig auf, hellwach, aber schweißnass.
Mein Wecker zeigt halb eins, und aus dem Wohnzimmer dringen noch immer Geräusche. Die Musik ist laut. Eigentlich müsste ich mich beschweren, aber was mache ich, wenn Anders tatsächlich bei ihnen ist? Und sie es sich wirklich zu dritt gemütlich gemacht haben sollten? Verflucht, nein, das kann nicht sein, so ist Anders nicht. Aber vielleicht braucht er mich?
Die Wohnzimmertür ist geschlossen, ich bücke mich und schaue durchs Schlüsselloch. Zunächst sehe ich gar nichts. Ich muss mich hinknien und das Auge direkt an das Loch halten, bevor ich ihn sehe. Er sitzt mit gespreizten Beinen auf dem Sofa und hält ein Glas in der Hand, jetzt setzt Mutter sich neben ihn. Sie sitzen sehr eng beieinander, sie legt ihm einen Arm um den Hals. Sagt irgendetwas, das ihn zum Lachen bringt. Dann steht sie auf und zieht ihn weiter ins Zimmer hinein, ich kann sie nicht mehr sehen. Ich warte noch einen Moment, hoffe, dass sie wieder in meinem Blickfeld auftauchen. Doch es passiert nicht, und ich ertrage diese Ungewissheit einfach nicht. Vorsichtig öffne ich die Wohnzimmertür und schaue hinein. Sie sind viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken. Henriette kramt in Mutters CD-Sammlung, Mutter und Anders tanzen. Es sieht vollkommen daneben aus. Sie drückt ihn an sich, aber ich sehe, dass es ihm nicht sonderlich gefällt ‒ er ist nur zu höflich, um es zu sagen. Mutter kann
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