Kopfloser Sommer - Roman
Zimmer in der Stadt. Kann ich mal das Fleisch haben?«
»Im Studentenwohnheim?«
»Nein, privat. Und die Sauce?«
»Studierst du?«
Auf diese Frage fängt er plötzlich an, wie ein Wasserfall zu reden. Er hat ein Psychologiestudium abgebrochen, weil die Lehrer inkompetent sind und die neuesten Forschungsergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Mutter will wissen, welche neuen Forschungsergebnisse er meint, aber er überhört ihre Frage und erzählt von einem Pädagogikstudium, das einfach besser zu ihm passt. Leider ist in diesem Jahr die Immatrikulationsfrist bereits verstrichen und er muss bis zum nächsten Jahr warten.
»Und womit willst du dir bis dahin die Zeit vertreiben?«, fragt Henriette nach.
»Ich werde mir irgendeine Arbeit suchen.«
»Als Gärtner?«, will Jacob wissen.
Anders nickt, es ist eine Möglichkeit. Aber er hat keine Ausbildung, leicht wird es nicht sein.
»Du kannst jederzeit hier bei uns arbeiten«, schlägt Mutter vor. »Wenn du mit Kost und Logis als Bezahlung einverstanden bist.«
Er würde es sich ernsthaft überlegen, antwortet Anders, und Jacob jubelt. Dann fängt Henriette an, von ihrem Garten zu erzählen. Es klingt, als solle er sich auch darum kümmern. Im Sommer wachse alles immer so schnell, klagt sie, vor allem das Unkraut, sie schafft es einfach nicht allein. Und ihr Mann hat für den Garten keine Zeit. Wenn er nicht im Büro ist, sitzt er in seinem Arbeitszimmer im Keller und bastelt an Computern. Mutter schüttelt mitleidig den Kopf. Anders ist allerdings eher an der Mahlzeit interessiert. Er scheint außergewöhnlich hungrig zu sein und schlingt, dass es geradezu unappetitlich aussieht. Offenbar ist es lange her, seit er etwas Ordentliches zu essen bekommen hat.
»Und wie geht’s dir, Emilie?«, erkundigt sich Henriette. »Genießt du die Sommerferien?«
Ich weiß keine rechte Antwort, jedenfalls keine positive, daher nicke ich nur.
»Emilie genießt es, lange schlafen zu können«, erzählt Mutter.
»Sie macht auch Bilder«, wirft Jacob stolz ein und hofft vermutlich, dass ich die Collage hole. Aber das kommt überhaupt nicht in Frage.
Auch Mutter will nicht über dieses Thema sprechen und zeigt stattdessen auf ein älteres Aquarell, das über dem Esstisch hängt. Eine Wasserlilie. Henriette kennt das Bild, lobt es aber noch einmal.
»Vielleicht solltest du Malerin werden.«
Ich schüttele verlegen den Kopf. Im Grunde hat sie ja recht, es ist mein heimlicher Traum. Allerdings weiß ich, wie schwer es ist, und außerdem habe ich keine Lust, meine Träume mit allen zu teilen.
»Sie denkt auch darüber nach, Immobilienmaklerin zu werden«, sagt Mutter. Auch das ist nicht ganz falsch, doch bevor ich es erklären kann, nimmt sie mir das Wort aus dem Mund. »Beim Verkauf unserer Wohnung hat Emilie sehr viel über den Wohnungsmarkt und die Finanzkrise gelernt. Sie weiß, welch großen Einfluss diese Dinge auf das Leben von ganz normalen Menschen haben können.«
»Ja, leider viel zu groß«, seufzt Henriette. »Will sie auf die Handelshochschule gehen?«
»Jetzt muss sie erst einmal die neunte Klasse beenden, dann sehen wir weiter.«
Das werden wir, ja, aber ich weiß nicht, warum sie wir sagt, wenn sie mich meint. Wenn ich hundertprozentig ehrlich sein soll, würde ich am liebsten einfach nur malen. Mutter weiß das, aber wir reden nicht mehr darüber, weil wir uns nur streiten würden. Sie kennt ein paar Maler, sagt sie, aber keiner von denen kann von der Malerei leben, sie haben alle noch einen Nebenjob.
»Du kannst doch jederzeit in deiner Freizeit malen«, sagt Henriette, als könne sie meine Gedanken lesen. »Und du, Jacob, was willst du werden, wenn du mal groß bist?«
»Soldat im Zweiten Weltkrieg!«
Gelächter. Normalerweise antwortet er Rennfahrer oder Fußballprofi; vermutlich hat er die Idee durch die Dokumentation bekommen, die er sich mit Anders angesehen hat.
»Der Zweite Weltkrieg ist seit sechzig Jahren vorbei, wie willst du das denn machen?«, frage ich ihn. Wenn sonst niemand ihn korrigiert, ist es eben meine Aufgabe.
»Dann werde ich Soldat im Dritten Weltkrieg.« Wir lachen noch lauter. Nur Anders sieht sehr ernst aus und nickt beifällig, während er sich laut schmatzend ein Stück Braten in den Mund steckt. Aus dem Mundwinkel läuft ihm der Bratensaft das Kinn hinunter, er wischt ihn nicht einmal ab. Jacob guckt ihn bewundernd an – aber auch neidisch, denn wenn er so äße, würde er zurechtgewiesen. Doch Mutter kommentiert
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