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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Jacob ihn auch nicht kapiert.
    »Du musst Jacob nur etwas vorlesen«, sage ich. »Nichts weiter. Er ist leicht zu erschrecken.«
    Anders nickt nachdenklich, offenbar hat er verstanden. Keine Gespenstergeschichten. Ich folge ihm. Jacob wartet mit einem Micky-Maus-Heft in der Hand, Anders setzt sich zu ihm auf die Bettkante. Ich bleibe an der Tür stehen.
    »Bei den Ducks gibt’s den Onkel Donald«, sagt Jacob. »Aber du bist nicht unser Onkel. Und auch keine Ente. Doch auf Emilies Bild gibt es eine Ente, die einen Menschenkopf hat.«
    Anders hat natürlich keine Ahnung, von welchem Bild die Rede ist. Er dreht sich fragend zu mir um. Ich schüttele den Kopf, ich finde, über dieses Thema müssen wir nicht beim Zubettgehen reden. Jacob ist da allerdings anderer Ansicht.
    »Auf Emilies Bildern gibt’s auch Menschen, die überhaupt keine Köpfe haben. Aber das geht gar nicht, denn dann wären sie doch tot, oder?«
    Anders antwortet nicht, aber er wird allmählich neugierig. Er möchte das Bild sehen. Ob ich es nicht holen könnte? Ich erkläre ihm noch einmal, dass wir jetzt nicht darüber sprechen sollten.
    »Es ist nämlich zu unheimlich für mich«, sagt Jacob. »Aber ich glaube, so etwas gibt es wirklich.«
    »Nein, so etwas gibt es nicht«, widerspreche ich entschieden. »Sollen wir dir nun etwas vorlesen, ja oder nein?«
    Ich hätte das Vorlesen gern hinter mir, um mich anschließend mit Anders allein zu unterhalten. Von mir aus können wir auch wieder in sein Zimmer gehen und im Dunkeln sitzen.
    Doch Jacob ist hartnäckig: »Kann schon sein, dass es soetwas gibt, Emilie, aber nicht an Orten, die du kennst. Nicht wahr, Onkel Anders?«
    »Ganz bestimmt«, sagt er. »Aber es geht diesen Leuten ausgezeichnet, weil sie an einem Ort leben, wo alle so aussehen. Keinen Kopf zu haben, ist für sie normal. Wenn sie uns sähen, wie wir mit dem Kopf auf dem Hals herumlaufen, würden sie es ziemlich unheimlich finden. Ihre Kinder bekämen Albträume von uns.«
    »Und was ist mit dem bösen Ritter, der sich ins Schloss schleicht und als Prinz ausgibt, gibt’s den auch?«
    Ich schüttele den Kopf. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich Jacob von einem Prinzen erzählt habe. Aber er erinnert sich, also stimmt es vermutlich. Ständig fragt er die seltsamsten Dinge, und manchmal höre ich einfach nicht richtig hin und antworte, was er hören will.
    Endlich fängt Anders an, Jacob aus dem Micky-Maus-Heft vorzulesen. Er liest nicht besonders gut, finde ich. Seine Stimme ist monoton, und Jacob passt nicht richtig auf. Ich glaube, Anders verliert zwischendurch auch mal den Faden. Ich versuche das Vorlesen immer ein bisschen dramatisch zu gestalten, zum Beispiel verändere ich meine Stimme, wenn eine Figur etwas sagt. Andererseits ist Anders’ Methode wunderbar einschläfernd.
    Ich lasse meine Gedanken schweifen und sehe Anders’ Zimmer vor mir. Es stehen so wenige Möbel darin, es wirkt so unbewohnt. In einer Ecke lag eine Sporttasche, in der ich ein paar Kleidungsstücke gesehen habe. Er muss sie aus seinem Zimmer in der Stadt mitgebracht haben, aber wann hatte er die Zeit dazu? Vermutlich letzte Nacht. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich auf den Weg gemacht hätte, nachdem wir anderen zu Bett gegangen waren.
    Wieder nehme ich den Geruch nach frischer Erde wahr ‒aber ich rieche auch noch etwas anderes, vielleicht Harz? Dieser Duft muss in seiner Kleidung hängen, oder ist es sein Körpergeruch? Wenn ich mich jetzt neben ihn setzen und meinen Kopf an seine Brust legen würde, könnte ich es herausfinden. Andererseits geht es mich nichts an, wie er riecht. Ich richte mich auf und schaue nach Jacob. Seine Augen sind kleiner geworden, er drückt seinen Teddy an sich. Er gähnt laut und vernehmlich, und kurz darauf ist er eingeschlafen. Ich gähne auch, aber ich halte mich wach, und als Anders das Heft beiseitelegt, unterhalten wir uns flüsternd.
    »Am ersten Abend, da wolltest du dir doch nur den Garten vom Bürgersteig aus ansehen, oder?« Er nickt. »Du hast gesagt, du bist gerade in der Nähe gewesen. Kennst du jemanden hier im Dorf?«
    »Nein«, gibt er zu, »ich bin nicht zufällig hier gewesen. Ich bin gekommen, weil ich den Garten noch einmal sehen wollte.«
    »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
    Er zuckt die Achseln. Wieso hat er uns belogen? Ich wundere mich. Aber es gefällt mir, dass er mir gegenüber die Wahrheit sagt. Jetzt weiß ich mehr als Mutter. Und ich fasse mir ein Herz und frage weiter,

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