Kopfloser Sommer - Roman
es nicht. Die Kartoffeln rührt Anders nicht an.
Henriette erzählt wieder von ihrem Mann. Er ist nicht nur als Gärtner hoffnungslos, sondern darüber hinaus auch noch Vegetarier. Das Gemüse zieht sie nur für ihn. Ihr Mann sieht sie schief an, wenn sie Fleisch isst, ja, er kann sein Essen nicht genießen, wenn er sie Fleisch essen sieht. Es klingt, als wäre das Zusammenleben zwischen Henriette und ihrem Mann ziemlich schwierig. Während sie erzählt, lehnt sie sich über den Tisch, so dass ihre Bluse sich vorn öffnet und Anders auf ihre Brüste schauen kann. Eine Chance, die er sich nicht entgehen lässt. Während er glotzt, schlingt er weiter das Essen in sich hinein. Mir wird übel.
Nach dem Abendessen wird der Tisch leergeräumt, damit Mutter und Henriette arbeiten können. Sie holen ihre Notebooks heraus, und wie gewöhnlich soll ich Jacob ins Bett bringen. Und wie immer versucht er Zeit zu schinden. Als er schließlich im Bett liegt, kommt er auf die Idee, dass Anders ihm vorlesen könnte. Er bittet mich, Anders zu fragen. Erst protestiere ich: Es ist spät und es reicht jetzt. Dann gebe ich nach, denn wenn Jacob schläft, kann ich mich vielleicht mit Anders noch ein bisschen unter vier Augen unterhalten.
Nach dem Abendessen ist er ins Gästezimmer gegangen, ich klopfe an die Tür. Ich höre ihn »Herein« sagen, doch als ich die Tür öffne, bin ich im ersten Moment verwirrt: Im Zimmer ist es dunkel. Die Gardinen sind vorgezogen, und die Möbel sehen aus wie Silhouetten. Aus dem Flur fällt ein wenig Licht ins Zimmer, und ich meine, ihn auf einem Stuhl am Fenster zu sehen.
»Wieso sitzt du im Dunklen?«
»Ich sitze einfach da und denke.« Seine Gesichtszüge sind nur schwer zu erkennen, aber ich glaube, er lächelt mich an.
Ich schließe die Tür und betrete den Raum. Er sagt lange kein Wort, ich auch nicht. Es ist qualvoll, gleichzeitig aber auch aufregend. Ich höre seine Atemzüge und meine, seinen Duft riechen zu können, er erinnert mich an Nadelbäume und frische Erde. Gern würde ich mich setzen. Da es keine weiteren Stühle gibt, setze ich mich ihm gegenüber auf die Bettkante.
Was würde Mutter sagen, wenn sie plötzlich hereinkäme und uns so in der Dunkelheit sitzen sähe? Ihr würde es nicht gefallen. Fast hoffe ich, dass sie kommt.
»Jacob fragt, ob du ihm vorlesen möchtest«, sage ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen kann.
»Bist du nur deshalb gekommen?«
Was hat er sich vorgestellt? Ich antworte nicht und richte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Bodendielen zwischen uns. Sie geben Geräusche von sich. Merkwürdig, denn niemand läuft über sie. Fast hört es sich an, als würde von unten geklopft, aus einem Keller, aber es gibt keinen Keller unter dem Gästezimmer. Oder den anderen Zimmern des Hauses.
»Es ist das Haus, es arbeitet«, sage ich.
»Was soll das heißen?«
»Im Sommer dehnen sich die Bodendielen aus, dann klingt das so.«
»Ah ja, so erklärt ihr euch das also.«
In der Dunkelheit kann ich seine Züge nicht lesen. Ich verstehe seine Reaktion nicht, er kennt das Haus doch besser als ich.
»Hast du eine andere Erklärung?«
»Ja, wenn du mir versprichst, es niemandem zu erzählen. Das sind die ehemaligen Mieter, die du da hörst.«
»Die ehemaligen Mieter? Gab es denn jemanden vor uns, also nach euch?«
»Ja, aber sie sind nicht sehr lange geblieben. Ich dachte, wir wären Freunde, und sie haben gesagt, ich dürfte hier wohnen, als ich das Haus gestrichen habe. Aber dann durfte ich doch nicht bleiben. Das war nicht sehr nett von ihnen, oder?«
»Und dann hast du sie dort unten eingesperrt?«
Im Halbdunkel nickt er. Ich weiß keine vernünftige Antwort, es muss ein Scherz sein, aber sein Gesicht bleibt todernst und er atmet ganz ruhig weiter. Ich bekomme eine Gänsehaut, als würde ich einen Horrorfilm sehen. Nur weiß ich nicht, ob ich mir den Film allein ansehen will.
»Es gibt keinen Keller unter dem Haus. In der Küche ist eine Luke, aber die führt nur zum Vorratskeller. Und der ist höchstens zwei Quadratmeter groß. Du kannst ihn dir ansehen.«
»Ist nicht nötig.«
Peinlich, natürlich kennt er den Vorratskeller.
Schließlich steht er auf. »Du bist nicht so leicht zu erschrecken, Emilie. Okay, gehen wir zu deinem Bruder.«
Als er die Tür öffnet, fällt das Flurlicht ins Zimmer und zerstört die besondere Atmosphäre. Verwirrt bleibe ich nocheinen Moment sitzen. Ich verstehe seinen Humor nicht. Und ich bin ziemlich sicher, dass
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