Kornmond und Dattelwein
Kinder auf ihre Schultern, um ihnen die ausziehende Armee zu zeigen, damit sie diesen Anblick ihr Leben lang behalten würden. »Sieh nur, die Frau dort in der roten Tunika«, erklärten sie ihren älteren Kindern und zeigten auf die Anführerin der Kolonne, »das ist unsere Kriegskönigin. Die Göttin hat sie zu uns geschickt, um uns wieder zu alter Größe und Herrlichkeit zu führen. Sie ist diejenige, die unsere Feinde zerschmettern und uns von Sieg zu Sieg führen wird.« In den Magurs lachten und scherzten die Soldaten. Und sie sangen, als seien sie zu einem fröhlichen Fest unterwegs.
Am späten Nachmittag erreichte die Armee den Olivenhain, und hier verwandelte sich die Straße in einen engen, gewundenen Pfad, der durch das Vorgebirge führte. In einer dünnen Reihe mühten sich die Soldaten voran und setzten vielfach ihre Speere als Stütze ein. Dornenbüsche, Felsen und Staub: die heitere Stimmung wurde immer schwächer. Ziehen, klettern, ausweichen und dem Hintermann eine Hand reichen. Die Lederrüstung wurde heiß und schwer. Bald waren die Wasserschläuche leer. Als sie den Gipfel des Hügels erreichten, von dem aus Inanna einst ihren ersten Blick auf die Stadt geworfen hatte, waren alle erschöpft, durstig und müde. Und der Mond stand bereits hoch am Himmel. Inanna ließ ein Nachtlager errichten.
Was mögen Stadtmenschen Zelte und Lagerfeuer bedeuten?
Inanna sah amüsiert zu, wie die Soldaten sich abmühten, Leinenunterkünfte zu errichten, die höchstens einem leichten Nieselregen standhalten würden. Aber was machte das schon, mit etwas Glück würden sie hier ohnehin nicht für länger lagern. Inannas eigenes Zelt war leer und nüchtern wie Lyras Stube in der Kaserne: ein paar Decken als Bettstatt, ein kleiner offener Ofen und ein Kochtopf. Sie hatte alles Überflüssige aus ihrem Leben verbannt. Eine scharfe Axt, zwei Speere und ein Köcher voller Pfeile mit weißen Federschäften. Was brauchte sie mehr?
In dieser Nacht trat sie vor dem Schlafengehen noch einmal auf den Gipfel und ließ den Blick über die Ebene schweifen. Der weiße Kreis der Stadt war ihr längst vertraut. Bei Tageslicht hätte sie sogar den Palast und den Tempel ausmachen können. Inanna blieb dort lange stehen, genoß die Schönheit des Anblicks, die Biegung des Flusses und die wogende Landschaft der Felder. Nicht ausgeschlossen, daß sie doch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gespürt, daß ihr irgendwann eine große Entscheidungsschlacht bevorstand. Und nun war dieser Zeitpunkt gekommen. Ruhe und ein Gefühl der Richtigkeit umhüllten sie. Sie griff in ihrer Tasche nach dem Wandelstein und spürte sein Gewicht. Gleichförmig und ruhig strömte die Macht in sie. Ihre eigene Vergangenheit war abgeschlossen wie ein Kreis, der in einem anderen Kreis lag; wie bei den zwei Mauern der Stadt. Alles war da, wo es hingehörte; womöglich traf das sogar auf die Zukunft zu. Der Mond zog über den Himmel, und die Zikaden führten in den Büschen ihr Abendkonzert auf. Nach einer Weile drehte Inanna sich um, begab sich in ihr Zelt und schlief sofort ein.
Zwei Tage später erreichte die Armee die Ausläufer der Berge. Inanna kam es so vor, als würde sie heimkehren. Sie atmete die frische, kühle Luft ein und begriff erst jetzt, wie erstickt sie sich in der Stadt gefühlt hatte. Erdhörnchen saßen auf den Felsen und sahen zu, wie die Kolonne vorbeimarschierte. Einmal sah Inanna eine hohe Zeder hinauf und entdeckte einen Adler, der dort wie ein Wächter hockte. Haselnuß, Eichen, Weißbuchen, Pistazien, Ahorn, Pflaumenbäume und Eschen, all die vertrauten Gewächse; sie kamen ihr wie alte Freunde vor. Sie probierte den zu Wasser geschmolzenen Schnee und roch die markanten Gerüche des Waldes. Dies war der Ort, an dem sie geboren und aufgewachsen war. Dies war der Ort, an den sie gehörte.
Gegen Mittag kehrten die Aufklärer mit der Meldung zurück, sie hätten kaum einen Tagesmarsch weit entfernt das Lager der Nomaden entdeckt. Die drei Kundschafter, zwei Männer und eine Frau, bewegten sich so leise, daß Inanna sie erst bemerkte, als sie direkt vor ihr standen. Kleine Menschen mit den flinken und scharfen Augen von Raubvögeln. Die Frau bewegte sich wie eine Tänzerin, als sie sich verbeugte, wieder aufrichtete und den umgehängten Bogen richtete. Die Waffe war fast so groß wie sie selbst. Den Köcher hatte sie sich mit lässiger Grazie über eine Schulter gehängt.
»Wie viele
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