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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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würde sich zum Kampf stellen, daß sein Stolz ihm keine Flucht erlauben würde, wenn er sich einem Haufen von bewaffneten Weibern und anderen Stadtmenschen gegenübersieht. Aber sie haben ja kaum Wachen um das Lager herum aufgestellt, und das kann nur eines bedeuten: Sie sind schon so gut wie im Aufbruch begriffen!«
    Seb sah auf die Soldaten, die links und rechts neben dem Pfad saßen, lagen oder standen. Manche hatten sich auf Felsen niedergelassen und tranken aus ihren Wasserschläuchen. Andere hatten sich auf ihren Umhängen ausgebreitet und schützten die Augen vor der unbarmherzigen Sonne.
    »Hast du je von meiner Mutter die Geschichte von der Belagerung der Stadt durch die Nomaden gehört? Unsere Leute haben damals Tote auf den Wällen postiert, damit es für die Angreifer so aussah, als seien viel mehr Verteidiger in der Stadt.«
    »Was willst du denn damit sagen?« fragte Inanna irritiert.
    »Eine ganze Menge.« Seb führte rasch und präzise seine Vorstellungen aus, und Inanna hörte ihm erstaunt zu. Sie war ganz begeistert, daß Seb sich einen so schlauen Plan ausgedacht hatte. »Also, laß die Armee noch eine Weile vorrücken und dann ein Nachtlager errichten. Die feindlichen Späher bemerken das sicher und teilen Pulal mit, daß noch keine unmittelbare Gefahr bestehe. Aber bevor der Mond untergegangen ist, brechen wir mit einer kleinen Schar – sagen wir hundert Soldaten – auf und überfallen die Nomaden. Wir greifen von dieser Stelle an, dort wo sie keine Wächter aufgestellt haben.«
    »Und wie wollen wir sie angreifen, sobald wir dort sind?«
    »Wir spielen ihnen etwas vor, lassen sie glauben, wir seien viel mehr, seien die ganze Armee. Wie die Toten auf den Wällen. Sie können dann nicht mehr davonlaufen, sondern müssen gegen uns kämpfen, weil sie glauben, einer solchen Streitmacht nicht entkommen zu können. In der Zwischenzeit macht sich Lyra mit den Magurs auf den Weg und stößt zu uns vor. Dann ist es nämlich bald Tag, und die Soldaten kommen gut voran. Wir kleine Schar hingegen tun nichts anderes, als die Nomaden so lange aufzuhalten, bis Lyra da ist.«
    Inanna betrachtete die Skizze und dachte verblüfft, daß Sebs Plan der beste war.
     
    Bei Sonnenuntergang brach die Armee auf und bewegte sich so leise, daß das Zirpen der Zikaden im hohen Gras nicht übertönt wurde. Man mußte die Späher der Nomaden nicht unnötig aufmerksam machen. Die Soldaten bewegten sich wie Geister. Ihre Waffen waren in den Umhängen eingewickelt, und um die Sandalen hatten sie Stofflappen gebunden. Das Geräusch ihrer Füße auf dem steinigen Boden war nicht lauter als ein leiser, unregelmäßiger Herzschlag. Manchmal, wenn Inanna kurz die Augen schloß, hätte sie fast glauben können, ganz allein in den Bergen zu sein. Wenn sie sie dann wieder öffnete und zurückblickte, sah sie die Kolonne einen nach dem anderen über den Pfad steigen.
    Sie kamen gut voran, und als der Mond nahe dem Rand des westlichen Horizonts stand, erreichten sie in einem Eichenwald eine Lichtung. Hier befahl Inanna zu halten. Wortlos gab sie Seb, der Hälfte der Königinnengefährtinnen und zwei Magurs das Zeichen, ihr zu folgen. Ohne auch nur ein Geräusch zu machen, schlichen sie aus dem Lager und verschwanden in der Dunkelheit.
    Der Himmel war bewölkt und viel Feuchtigkeit lag in der Luft. Unter den Zedern zu schleichen war so ähnlich, wie blind zu sein. Inanna konnte nur ausmachen, daß der Trupp ihr noch folgte, wenn ein Steinchen angestoßen wurde und irgendwohin rollte. Bald war es ihnen nicht mehr anders möglich, als sich aneinander festzuhalten, um sich davor zu bewahren, von den übrigen getrennt zu werden und in die Irre zu laufen. So kamen sie natürlich nur noch langsam und schwerfällig voran. Zweimal vermeldeten die Späher, daß der Trupp falsch abgebogen war. Sie mußten dann den ganzen Weg wieder zurück, bis sie die richtige Stelle erreicht hatten. Hüfthohes Gras, ineinander verwobenes Unterholz und auch ein Bach, der wie aus dem Nichts aufzutauchen schien, behinderten immer wieder ihr Vorankommen. Das Wasser war eiskalt. Sie mußten beim Durchwaten des Baches ihre Fackeln und Waffen über den Köpfen halten. Inanna beobachtete die grauen Streifen am östlichen Himmel und versuchte zu bestimmen, wieviel Zeit noch bis zum Sonnenaufgang vergehen würde; und ob sie bei Tagesanbruch das Nomadenlager erreicht haben würden oder nicht. Ein langer Aufstieg auf einem steilen Hang, ein mühseliges Hinabstolpern auf

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