Kornmond und Dattelwein
Hälfte seines Umfangs aus. Reif bedeckte den Boden am Morgen, und die Libellen, die ihre letzten Eier legten, schwirrten über den braunen Schilfrohren. Inanna sammelte körbeweise Nüsse ein. Nachts saßen die beiden am Feuer, schälten die Nüsse und genossen die süßen Kerne. Enkimdus Bein war jetzt beinahe ausgeheilt, und wenn er sprach, konnte Inanna das meiste davon verstehen. Aber manchmal tauchten dennoch Probleme auf.
»Meine Mutter«, erzählte Enkimdu eines Abends, »ist eine sehr dicke Frau.« Inanna legte die Vogelschlingen beiseite, die sie gerade knüpfte, und sah ihn sonderbar an.
»Eine sehr dicke Frau?«
Enkimdu nickte bedeutungsvoll und zog sich den Umhang fester um die Schultern, weil es empfindlich kalt geworden war. »Meine Mutter ist eine sehr dicke Frau und entstammt einer langen Linie von sehr dicken Frauen.« Inanna wandte das Gesicht ab und tat so, als würde sie die Schlingen ordnen. Sie wollte ihn nicht auslachen, wollte ihn nicht verletzen. Aber der Drang zu lachen war sehr groß, und je mehr sie gegen ihn ankämpfte, desto stärker wurde er. Enkimdu starrte sie verwirrt an und war wohl doch ein wenig beleidigt.
»Warum du lachen?« fragte er.
»Sehr dick.«
Inanna blähte die Wangen auf und tat so, als würde sie kauen.
»Sehr dick
ist das falsche Wort.« Endlich begriff er seinen Fehler und fiel gutgelaunt in ihr Lachen ein. Seine blauen Augen funkelten vor Heiterkeit. Seit langer Zeit war nun zum erstenmal Farbe auf seinen Wangen. Wie gesund er in dieser Nacht aussah. Wie gut er in dieser Nacht aussah. Ohne daß sie wußte warum, erinnerte sich Inanna jetzt an Zu, wie er sie angesehen hatte, als er auf sie zugerannt war. Auch Zu hatte sehr gut ausgesehen. Aber wieso dachte sie an solche Dinge? Sie war eine verheiratete Frau. Sie verbannte diese Gedanken aus ihrem Bewußtsein, spürte aber, wie sie sich am Rand weiter regten. Mein Wolfsselbst, sagte sie zu sich, geh wieder schlafen und laß mich in Frieden. Inanna entdeckte, daß die Schlingen ihr aus der Hand geglitten waren und sich zu einem Knäuel verwirrt hatten. Fast die ganze Nacht würde sie wohl dazu benötigen, sie wieder zu entwirren. Was war sie doch für eine Närrin, sich so unnützen Gedanken hinzugeben.
»Ich meinte nicht, meine Mutter
sehr dick«,
erklärte Enkimdu gerade. »Ich sagen wollte, meine Mutter ist ...« Er wedelte mit den Armen durch die Luft und sah Inanna hilfesuchend an.
»Bedeutend«,
sagte sie, ohne ihn anzusehen.
»Ja, sie
bedeutend.
Meine Mutter ist bedeutende Frau. Und mächtig, ja. Hauptmann.«
Inanna schüttelte den Kopf und löste die nächste Verknotung. »Eine Frau kann kein Hauptmann sein«, erklärte sie. Sie schob sich ein Reststück von dem Fisch in den Mund und kaute lustlos darauf herum. »Wahrscheinlich meinst du, deine Mutter ist die
Hauptfrau
an der Seite des
Häuptlings.«
Aber Enkimdu winkte ihre Erklärung nur ab. »Hauptmann«, wiederholte er stur. »Ja, meine Mutter Hauptmann. Du verstehen?« »Aber eine Frau kann kein Hauptmann sein«, beharrte Inanna. Manchmal blieb er bei seinen Verwechslungen, ganz gleich wie geduldig und langmütig sie ihn berichtigte. Vielleicht lag das aber auch in der Natur der Männer, daß sie auch dann noch an ihren Ideen und Vorstellungen festhielten, wenn sie sich schon längst als falsch erwiesen hatten. Oh, wie unerträglich mächtig die dumme Dickköpfigkeit der Männer sein konnte! Oh, wie Inanna sie um diese Stärke beneidete, einen einmal beschrittenen Weg bis zu Ende zu gehen!
»Inanna«, sagte Enkimdu, »verstehen du denn nicht?« Aus seinem Blick sprach Sorge.
»Nein«, antwortete sie etwas schärfer als beabsichtigt.
Enkimdu tätschelte ihre Hand. »Verstehen kommt auch noch zu dir«, erklärte er sanft. Er nahm einen halb verbrannten Stock aus dem Feuer und malte zwei lange Striche in die Asche. Dann suchte er sich eine handvoll Steine zusammen und plazierte sie in einer langen Reihe. War das vielleicht ein Spieh seines Volks?
»Berge«, erklärte Enkimdu und zeigte auf die Steine. Er fuhr mit der Stockspitze an den Linien entlang. »Wasser. Lange Wasser.« »Wasser?« Inanna blickte neugierig auf die Linien. Sie berührte sie, aber sie waren trocken. Wasser? Linien? Sie spürte, daß sich hinter all dem etwas Wichtiges verbergen mußte. Etwas, das sie gern erfahren würde, aber worum konnte es sich dabei nur handeln? Wenn doch alle Menschen dieselbe Sprache sprechen würden, wieviel einfacher wäre doch alles. »Wasser?«
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