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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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fragte sie wieder und berührte erneut die trockenen Linien.
    »Große Wasser«, sagte Enkimdu erregt, legte den Stock beiseite und breitete zur Verdeutlichung die Arme aus. »Nach Westen. Ich von da.« Er zeigte auf einen Punkt neben den Linien.
    »Du kommst aus dem Tal der Flüsse!« Inanna warf die Schlingen von ihrem Schoß und sprang auf. »Du kommst aus dem Tal, das auf der anderen Seite der Berge liegt?«
    Enkimdu nickte heftig. »Von der Stadt der Taube«, erklärte er. »Du kennen?«
    »Nein.« Inanna warf rasch neues Holz ins Feuer und setzte sich neben den Mann. »Erzähl mir mehr davon«, bat sie. »Erzähl mir alles von der Stadt der Taube.« Sie griff nach der goldenen Taube, die um seinen Hals hing. »Woher hast du das hier?« Das Gold lag warm in ihrer Hand. »Meine Schwester hatte eine solche Taube. Schon seit langem wollte ich dich fragen, woher du deine bekommen hast.«
    »Von meiner Mutter«, sagte Enkimdu. Inanna lächelte und vergaß alles um sich herum, weil sie nun doch noch etwas über das ferne Tal erfahren würde.
    »Die Schwarzköpfigen sagen, ihr Fremden hättet gar keine Mütter«, erzählte sie ihm.
    »Und wir sagen, ihr fischt eure Säuglinge wie Schildkröten aus dem Wasser«, lachte er. »Und mein Volk sagt auch, ihr Bergbewohner würdet von Wölfinnen gesäugt und hättet Wölfe als Eltern.«
    Inanna wurde sich des Grün ihrer Augen bewußt und spürte das Wolfsherz in ihr besonders wild schlagen. »Dein Volk hat recht«, sagte sie leise.
    Enkimdu beugte sich vor, sah ihr ins Gesicht und nickte. »Ich sehe Wildheit in deinem Blick, Inanna-Freundin«, erklärte er. »Aber ich sehe dort große Lieblichkeit auch.«
     
    Das Gras wuchs höher, ohne die Aufmerksamkeit der beiden zu erregen. An einem Tag war es noch so kurz gewesen, daß Inanna sich bücken und den Schnee fortwischen mußte, um es zu sehen. Als sie das nächste Mal dazu kam, nach dem Gras zu sehen, war es so hoch, daß es einem Mann bis an die Hüfte reichte. Wann war das Gras so gewachsen, und warum hatte sie nicht darauf geachtet? Es mußte schon seit langem gewachsen sein, wenn es jetzt so hoch und dicht stand, daß ein Kind sich darin verlieren konnte.
    Warum dachte sie unentwegt an Enkimdu? Wann hatte sie damit angefangen? Inanna schämte sich vor sich selbst. Sie wollte aufhören, an ihn zu denken, aber sie konnte schon längst nicht mehr zurück. Sie verstieß gegen ihre Pflichten als Ehefrau. Inanna kam sich vor wie die närrische Frau aus dem Volk Ki, die immerzu herumgelaufen war und zu jedem nichts anderes als »Ziege, Ziege« gesagt hatte. Nur lautete bei Inanna das Wort »Enkimdu«. Und es hallte immerzu in ihrem Kopf wider, auch wenn sie allein war und an andere Dinge dachte. Nachts wenn sie am Feuer saßen und sich Geschichten erzählten, stellte sie beunruhigt fest, daß sie ihm nicht ins Gesicht blicken konnte. Sie beschrieb ihm die Zelte der Kur und achtete darauf, von Hursag zu erzählen. »Ich bin verheiratet«, erklärte sie ihm mehr als einmal, aber auch das half ihr nichts. Sie hörte seine Geschichten von großen Ziegelsteinhäusern, von Tempeln und von Händlern, die aus der ganzen Welt kamen und Perlen und Lapislazuli brachten; aber sie konnte gar nicht richtig zuhören und keine Begeisterung für diese Wunder aufbringen, denn immerzu bohrte eine Frage in ihrem Kopf: »Was mag Enkimdu von mir denken?«
    Nichts natürlich. Er dachte wahrscheinlich überhaupt nicht an sie. Was für eine Närrin sie war, sich in seiner Gegenwart mit so dummen Gedanken zu beschäftigen. Aber diese ärgerliche Stimmung würde auch wieder vergehen. Natürlich würde sie vergehen, wenn sie sich nur ausreichend mit anderen Dingen beschäftigte. Aber wenn sie unterwegs war, um Vogelschlingen auszulegen, bestürzte sie mehr als einmal die Vorstellung, Enkimdu könnte nicht mehr da sein, wenn sie zurückkehrte. In solchen Momenten ließ sie alles stehen und liegen und rannte so rasch wie möglich zur Hütte zurück. Und stets saß er da, wo er immer saß. Natürlich war er nicht fortgegangen. Sein Bein war ja noch nicht vollständig ausgeheilt. Und wenn er eines Tages doch gehen würde? Na und, das konnte ihr doch wohl gleich sein!
    Sie beschloß, von nun an ruhig und aufmerksam seinen Geschichten zuzuhören. Sie wollte am Feuer sitzen und ihre Schlingen flikken. Und wenn er erzählte, würde sie ihm ruhig und gelassen ins Gesicht sehen. Nichts würde sie dabei verspüren. Alles war nicht mehr als die dumme Verwirrung

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