Kornmond und Dattelwein
den Blick auf den Boden.
»Die Schlingen?« sagte Enkimdu. Die Vogelschlingen lagen in einem Haufen vor ihren Füßen. Vor Zorn lief Inanna rot an. »Eine gute Jagd wünsche ich«, sagte er. Er hob das Gewirr auf und warf es ihr zu. »Wenn du zurückkommst, bin ich wahrscheinlich schon eingeschlafen.«
In dieser Nacht stand sie lange über ihm und betrachtete sein Gesicht im Schein des Feuers. Sie mußte verschwinden, bevor es zu spät war. Inanna erinnerte sich an den Fisch, den sie heute morgen gefangen hatte. Wie er sich an der Speerspitze gewunden hatte, wie seine Augen hervorgetreten waren, wie sich die Farbe seiner Schuppen verändert hatte. Und sie erinnerte sich an die Vögel in den Schlingen, wie sie sich die eigenen Federn von den Flügeln geschlagen hatten, wie sie sich hoffnungslos in den Schlingen verheddert hatten. Wie gefangen war sie bereits? Wieviel hatte dieser Mann von ihr schon in seinem Besitz, ohne daß sie etwas davon bemerkt hatte?
Enkimdu drehte sich im Schlaf, legte eine Hand auf die Brust und atmete flach. Seine Augen bewegten sich unter den Lidern. Leise stellte sie alles für den Aufbruch zusammen: einen Sack für Nahrungsmittel, einen Wasserschlauch und das Messer, daß er für sie aus einem Knochen geschnitzt hatte. Sie nahm die Hälfte der getrockneten Lilienzwiebeln aus dem Korb, griff sich eine Handvoll Nüsse und steckte einen Feuerstein ein. Inanna achtete darauf, sich leise zu bewegen, leiser noch als eine Maus in einer Vorratskammer. Sandalen, Speer und Schlingen. Das Feuer loderte kurz auf, und dabei fiel ihr die Narbe auf Enkimdus Stirn ins Auge. Sie war geheilt, war nicht mehr als eine kleine rote Blume. Wie eine wilde Rose auf einem Busch. Nein, er brauchte sie jetzt nicht mehr. Er war geheilt. Sie wollte sich hinunterbeugen und ihn berühren, ihm wenigstens Lebewohl sagen. Aber was dachte sie denn da! Sie würde ihn aufwecken, wenn sie noch lange hier herumstand.
Draußen war es kalt, und die Sterne hatten sich hinter Wolken verborgen. Warum war sie plötzlich so traurig? In einer Woche, spätestens in zwei würde sie Enkimdu vollkommen vergessen haben. Der Wind drang durch ihre Kleider und ließ sie zittern. Etwas Weißes trieb vom Himmel und ließ sich auf ihrem Ärmel nieder. Eine Schneeflocke, kaum größer als die Spitze ihres Fingernagels, der eine zweite und eine dritte folgten. Inanna ließ ihr Bündel zu Boden fallen und sah hinauf in den Himmel. Ein Sturm braute sich über ihr zusammen, würde den Pfad bedecken und die Pässe versperren. Sie konnte nicht losziehen, konnte nicht fort von hier. Nach einem halben Tag im Schnee, ohne warmen Umhang oder festes Schuhwerk, würde sie sterben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in die Hütte zurückzukehren. Sie hatte keine Wahl. Sie und Enkimdu blieben bis zum Frühjahr hier gefangen.
Inanna fing ein paar Schneeflocken in der hohlen Hand und leckte an ihnen. Sie schmeckten kalt und kiesig. Warum sie das fröhlich machte, konnte sie sich nicht erklären. So heiter, daß sie sich ihre guten Laune schämte.
Am nächsten Morgen, als Enkimdu mit einem Korb voll gemahlener Eicheln hantierte, ging Inanna zu ihm und stellte sich mit verschränkten Armen vor ihn hin. »Wie viele Frauen hast du?« verlangte sie von ihm zu erfahren. Ihre Stimme klang sehr scharf, schneidender noch, als sie beabsichtigt hatte. Sie sah ihn dabei streng an und dachte: Jetzt muß ich es tun, solange ich noch kann. Die Dinge zwischen uns müssen jetzt geklärt werden. Enkimdu lachte so laut, daß ihm etwas von der Eichelmasse ins Feuer fiel. »Ich habe keine Frauen. Warum fragst du?«
Inanna wandte sich ab, weil sie sich über sein Lachen ärgerte. »Der Name meines Mannes ist Hursag.«
»Das hast du mir schon mehrmals gesagt«, unterbrach Enkimdu sie.
»Er ist sehr reich«, fuhr sie fort und war fest entschlossen, sich durch nichts mehr unterbrechen zu lassen. »Er besitzt viele Ziegen, so viele, daß niemand sie zählen kann.« Enkimdu setzte den Korb ab und wischte sich die Hände an den Hüften.
»Dann mußt er ja schon ein ziemlich alter Mann sein, dein Hur-sag, wenn er so viele Tiere zusammenbekommen konnte.«
»Sein Alter geht dich gar nichts an!«
Enkimdu biß sich auf die Unterlippe, so als wollte er ein Lachen unterdrücken. »Ja, natürlich«, sagte er übertrieben ernst. »Und liebst du deinen steinalten Gemahl, der dich wie eine seiner Ziegen besitzt?«
»Wage es ja nicht, so etwas zu mir zu sagen!« rief sie und stampfte
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