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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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kleiner, unreifer Mädchen. Und wahrscheinlich war sie etwas durcheinander, weil sie nun schon so lange von ihrem Volk getrennt war. Also setzte sie sich auf ihren Platz am Feuer. Aber als Enkimdu kam und sich neben sie setzte, zitterten ihre Hände so sehr, daß sie keinen Knoten mehr lösen konnte. Er bot ihr ein zartes Stück Zaunkönigbraten an, aber sie verspürte wieder einmal überhaupt keinen Hunger. »Bist du krank?« fragte er. Besorgnis klang in seiner Stimme mit, und der gab sie sich einen Augenblick lang hin und ließ sich davon erwärmen. Nein, die Gefahr war zu groß! Sie biß sich in die Wange und mühte sich ab, dieses Gefühl zu verjagen. Und sie stellte fest, daß sie ihm noch immer nicht ins Gesicht blicken konnte. Warum? Warum sollte sich ein Mensch so zu einem anderen hingezogen fühlen? Hatte er einen Bann über sie gelegt? Hatte er ihr eine Droge ins Essen getan? Sie erklärte ihm mit bemüht gleichgültiger Stimme, daß sie müde sei und sich früh schlafen legen wollte. Ob sie nicht vielleicht noch eine Geschichte hören wolle? fragte er nett. Inanna tat so, als gäbe es nichts Unwesentlicheres auf der Welt, und erklärte so indifferent, wie ihr das eben möglich war: »Na ja, wenn du sie erzählen willst. Mir ist es gleich.« Enkimdu ließ sich neben ihr nieder. Er war ihr so nah, daß sein Ärmel fast den ihren berührte. Sie wollte ihren Arm fortziehen, aber er war so schwer, daß sie ihn nicht von der Stelle rühren konnte.
    »In meiner Stadt verehren die Menschen die Göttin«, begann Enkimdu. Er bemerkte rein gar nichts von der Unruhe in ihr, und darüber war sie halb froh und halb verärgert. Er setzte eine kleine Kürbisflasche mit heißem Tee an den Mund und trank langsam. In Inannas Händen verwirrten sich die Schlingen in immer mehr Knoten, bis es so aussah, als hätte sich ein Wiesel darin gefangen.
    »Die Göttin Ki?« fragte Inanna, und ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor; so dumpf und so weit entfernt, als würde sie aus einem hohlen Baumstamm sprechen. Enkimdu nahm noch einen Schluck und schüttelte dann den Kopf.
    »Nein, nicht Ki«, sagte er freundlich. Er nahm einen Stock und malte damit zwei Bilder in die Asche. Das eine zeigte eine Frau, die eine Schlange an die Lippen hielt. Das andere zeigte dieselbe Frau, nur deutlich älter, mit schweren Brüsten und schwanger. »Die Göttin hat zwei Formen, die Dunkle und die Lichte.
    Ihr einer Name ist Lanla die Göttin, und ihr anderer Name ist Hut die Mutter der Nacht.« Seine freundliche und ruhige Art trieb Inanna fast in den Wahnsinn.
    »Und wie viele Ziegen opfert ihr diesen beiden Göttinnen?« fragte sie, ohne seine Worte genau gehört zu haben, weil sie an nichts anderes denken konnte als daran, wie nah sein Arm ihr war. »Keine. Hut, die Blut getrunken hat, opfern wir gar nichts.« Er runzelte leicht die Stirn, so als schien ihn eine Erinnerung zu plagen. »Und Lanla opfern wir Früchte und Getreide.« Der Name der Lanla zauberte das Lächeln auf sein Gesicht zurück, und Inanna war sofort klar, daß ihr diese Göttin besser gefiel als jene. »Wir verehren Lanla durch Gesang und Tanz, und auf eine andere Weise ...« Enkimdu sah sie an, und ein seltsamer Ausdruck war auf seinem Gesicht.
    »Was für eine andere Weise?« wollte Inanna wissen. Enkimdu beugte sich vor und fing an, sanft mit der Handfläche über ihr Haar zu streifen. Die Berührung war fest und gleichmäßig. Inannas Herz schlug wie verrückt, und sie fühlte sich so benommen wie nach einer anstrengenden Bergwanderung.
    »Wenn ich wieder ganz gesund bin«, flüsterte er, »zeige ich dir, wie mein Volk Lanla verehrt.« Seine Berührung war in jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Sie spürte sie überall: in den Händen, in den Füßen und vor allem im Rücken. Inanna schloß die Augen und ließ ihn ihren Kopf streicheln. Und seine Fingerspitzen fühlten sich an wie die weichen Federn eines jungen Vogels. Sie kam sich vor wie ein Kind, das beruhigt und gewärmt wurde. Dann fiel ihr Lilith ein.
    »Nein, du darfst mich nicht anfassen«, fuhr sie ihn barsch an und löste sich mit einem Ruck von ihm. »Ich gehöre einem anderen Mann.« Enkimdu sah sie an und lächelte amüsiert.
    »In meiner Stadt gehören die Frauen nur sich selbst.«
    Inanna stand auf und achtete auf Abstand zu ihm. Er wollte sie in eine Falle locken, aber sie würde nicht so dumm sein und auf ihn hereinfallen. »Ich gehe los, um nach den Vogelschlingen zu sehen«, erklärte sie und richtete

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