Kornmond und Dattelwein
Lanla uns wohlgesonnen ist.«
»Ihr sturer Esel!« entfuhr es Inanna, ehe sie sich wieder im Griff hatte. Die Bediensteten atmeten vernehmlich ein, aber Inanna war viel zu wütend, um darauf zu achten.
Die Königin lachte nur. »Das gefällt mir so an dir. Du hast wirklich überhaupt keine Manieren. Du sagst einfach das, was dir gerade in den Sinn kommt, nicht wahr?«
»Ja, so wird es wohl sein.« Die Königin reichte ihr Alna zurück und nahm die Tonwerkzeuge wieder in die Hand. »Ihr könntet wenigstens Späher aussenden. Ich selbst könnte sie anführen. Schließlich kenne ich mich in den Bergen aus.«
»Du willst dein eigenes Volk ausspionieren?«
»Ich habe da noch eine Blutrache durchzuführen.«
»Gegen wen?«
»Gegen meinen Bruder Pulal. Er ist auch derjenige, der die Stämme mit Versprechungen über viel Gold und noch mehr Frauen in der Stadt hinter sich gebracht hat. Er hat meine Schwester und deinen Sohn getötet.«
Bei der Erwähnung von Enkimdu verhärtete sich das Gesicht der Königin. »Eine Königin muß über persönlichen Rachegelüsten stehen.«
Aber hier geht es doch nicht nur um eine persönliche Rache. Wenn Ihr die Nomaden nicht jetzt aufhaltet, überrennen sie die ganze Ebene. Sie sind Eurem Volk mindestens zehn zu eins überlegen. Könnt Ihr denn nicht einsehen, daß man manchmal einen K rieg beginnen muß, um einen anderen zu verhindern?«
»Eine interessante Vorstellung. In jedem Jahr verfällt mindestens einer meiner Ratgeber darauf.«
»Bitte.« Inanna warf sich der Königin zu Füßen. »Ich flehe Euch im Namen der Göttin Lanla an, reorganisiert die Armee und greift die Nomaden an, wenn sie es am wenigsten erwarten.«
»Du meinst, du flehst mich im Namen deines Hasses auf deinen Bruder an.«
» Nein, das meine ich ganz und gar nicht.« Die Königin schmunzelte. »Du gibst einen erbärmlichen Bittsteller ab. Unterwürfigkeit gehört nicht gerade zu deinen ausgeprägtesten Talenten.« Sie gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie entlassen war. »Nun geh, und kehre erst zurück, wenn du dich etwas abgekühlt hast.« Sie hätte zumindest Späher aussenden können, dachte Inanna, als sie wütend die königlichen Gemächer verließ. Aber sie wehrt sich ja mit allen Mitteln, die Wahrheit zu sehen. Sie kann sich einfach nicht dem Gedanken beugen, daß sie versagt hat, daß ihre Vorstellung der Friedensschaffung gescheitert ist. Den Frieden will sie, und dafür läßt sie alles um sich herum zerfallen. Warum hat sie es aufgegeben, sich um Stadt und Volk zu kümmern? Was stimmt nicht mehr mit ihr? Später, als sie Königin war, erkannte Inanna, daß sie ohne diese Audienz nie einem Treffen mit Rheti zugestimmt hätte. Aber sie war damals viel zu wütend gewesen.
Wie anders sich die Dinge vielleicht entwickelt hätten, wenn die Königin ihre Warnung ernst genommen hätte, dachte Inanna oft, wenn sie auf ihrem Thron saß und ihren Blick durch die große Halle schweifen ließ. Sie fragte sich dann auch, ob es Zufall gewesen war, daß die Nachricht vom Tempel auf sie wartete, als sie aus den königlichen Gemächern zurückgekehrt war. Bestimmte irgendein Gott den Verlauf ihres Lebens, oder waren Rhetis Spione besser, als sie sich das vorgestellt hatte?
»Die Hohepriesterin wünscht, Euch zu sehen, Muna«, erklärte der Eunuch. Seine Lippen waren unauffällig bemalt und er roch schwach nach Duftstoffen und Gewürzen. Offiziell wurde ein Eunuch als Frau angesehen und besaß alle Privilegien der Frauen, aber Inanna war es stets schwergefallen, in einem Eunuchen etwas Weibliches zu sehen... Die glatten, bartlosen Gesichter, die Männerkörper, aus denen helle Knabenstimmen sprachen... Sie hatte sie ebenso wie die Tempelpriesterinnen unterrichtet, sich aber nie an sie gewöhnen können. Woher stammte ein solcher Brauch, und wann war er entstanden? In der Gegenwart von Eunuchen fühlte sie sich unbehaglich. Diese Männer hatten sich dafür entschieden, sich selbst der Göttin zu weihen, aber mehr als einmal fragte sich Inanna, ob nicht der eine oder andere von ihnen dies gelegentlich bedauerte.
Der Eunuch vor ihr war bereits ein alter Mann und so klapprig, daß die Robe wie ein Sack über seinen Knochen hing. Boten wie er konnten niemanden erschrecken. Er stand in einer schiefen Verbeugung da, so als gehöre sie zur königlichen Familie, und er räusperte sich vorsichtig, so als wollte er nicht mit diesem Geräusch ihre Ohren beleidigen. »Die Hohepriesterin ...« begann er
Weitere Kostenlose Bücher