Kornmond und Dattelwein
erneut.
»Wann?« unterbrach ihn Inanna.
»Jetzt,
Muna«,
erklärte der Eunuch sanft, so als habe er nur auf diese Frage gewartet. »Im Tempel.« Inanna studierte ihn kurz, überlegte sich dann, welche Gefahren dort auf sie lauern mochten, und entschied sich dann mitzugehen. Oder vielmehr diktierte ihr der Zorn mitzugehen. Wenn die Königin die Stadt schon nicht regieren konnte, dann sollte sie sich vielleicht mit Rheti verbünden. Möglicherweise war die Hohepriesterin ja gar nicht so schlecht, wie man ihr allgemein nachsagte. Aber aus der Tiefe ihrer Gedanken schob sich die Erinnerung an den bösen Traum hoch: das weiße Haar, das blaue Licht, die Ausstrahlung des Bösen. Doch damals war sie nach der Geburt nicht recht bei Sinnen gewesen. Es wurde an der Zeit, sich ein objektiveres Bild von der Blinden zu schaffen.
Im Tempel brannten die Votivfackeln trübe, und die Luft war schal von welkenden Blumen und Weihrauch. Schatten tanzten über die Wände, und Inanna wünschte sich, sie hätte sich nicht so vorschnell entschieden. Bildete sie sich das nur ein, oder war es hier tatsächlich kühler, als es hätte sein dürfen? Sie wickelte sich fester in ihr Gewand und sah flehentlich zu Lanla hinauf. Die Statue der Göttin war uralt und verrußt vom Rauch. Ihr purpurrotes Gewand wirkte abgenutzt, und die goldenen Ränder waren überall matt und stumpf und an einigen Stellen abgeblättert. Die heiligen Tiere an ihrer Seite – ein Hirsch, einige Hasen und viele Tauben – machten einen vernachlässigten Eindruck. Hier war ein Ohr abgebrochen, dort war viel Farbe abgeplatzt. Auf der steinernen Heilbank schnarchte eine alte Priesterin unregelmäßig. Auf recht unbehagliche Weise hatte sie den Kopf auf einen Arm aufgestützt. Eine der berüchtigten
Lants,
über die sie sich mit Enkimdu gestritten hatte. Inanna fragte sich kurz, ob die Alte vielleicht von einer Magenverstimmung heimgesucht worden war und von der Göttin Linderung erhofft hatte, oder ob es ihr einfach in ihrem Zimmer zu heiß geworden war.
»Hier entlang, bitte.« Der Eunuch führte sie durch den Hauptraum an der Statue von Hut vorbei. Auf ihrem Altar stand ein Strauß frischer Blumen in einer Wasserschale. Es war nicht schwer zu erraten, wo die wahre Sympathie der Bevölkerung lag. Inanna ging schneller. Ihre Sandalen erzeugten ein unangenehmes Echo auf den Fliesen.
Irgend etwas hier stimmte nicht, aber sie konnte es nicht herausfinden. Inanna zitterte und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Kälte hier drinnen war unerträglich, und dabei war es draußen so heiß, daß man sich auf dem Straßenpflaster fast die Füße verbrannte. Sie erinnerte sich an die Königin, die sich in eine Wolldecke eingewickelt hatte und dennoch zitterte, als säße sie in einem Schneesturm. Irgendein Zusammenhang schien da zu bestehen, aber welcher?
»Hier«, sagte der Eunuch und unterbrach damit ihre Gedanken. Er zog einen Wandteppich beiseite und legte damit einen Gang frei, der so niedrig war, daß sie sich beide bücken mußten. Sie kamen durch einen schmalen Verbindungsgang, der mit schwarzem Lehm bedeckt war. Inanna fielen die an die Wände gemalten Geier auf; ockerrot auf schwarzem Untergrund. Die Kälte wuchs, und sie zitterte von einem unsichtbaren Zug.
»Einen Augenblick, bitte,
Muna,
ich sehe nur rasch nach, ob die Hohepriesterin bereit ist.« Der Eunuch verbeugte sich so tief, wie es der enge Gang zuließ, und lächelte. Er hatte überraschend weiße Zähne. Rasch drehte er sich um und verschwand eine Steintreppe hinunter. Inanna hielt den Atem an und lauschte dem Geräusch seiner Schritte, bis nichts mehr zu hören war. In der merkwürdigen Stille glaubte sie, ersticken zu müssen, lebendig begraben zu werden. Und mit diesen Vorstellungen machte sie sich selbst die meiste Angst. Inanna schloß die Augen und dachte an all die Male, in denen sie vor Gefahren gestanden und sie schließlich überwunden hatte. Aber das Gefühl der Präsenz des Bösen ließ sich nicht verdrängen. Wolfsaugen, Wolfsherz. Leider blieb der Spruch hier ohne Wirkung. Der Wandverputz hinter ihr war so kalt, daß sie jedesmal zusammenzuckte, wenn sie mit ihm in Berührung kam. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Eine Ratte?
»Nehmt dies, es wird Euch nützen.« Der Eunuch stand vor ihr und reichte ihr ein rauchendes Schilfrohrbündel. Wie sonderbar, daß sie ihn nicht gehört hatte. Das Licht der Fackel war nicht sehr hell, aber Inanna stellte sich vor, die Wärme der Flammen zu
Weitere Kostenlose Bücher