Kornmond und Dattelwein
Nischen in den Wänden, in denen einst die von der Königin gefertigten Statuen gestanden hatten, waren leer. »Wo sind Eure Kunstwerke?«
Die Königin wischte sich mit einem Tuch über den Mund und nahm einen Schluck warmen Wassers, um ihre verklebte Zunge zu lösen. Das Haar klebte ihr wie eine Paste am Kopf. Ihre Hände zitterten, als sie nach der Tasse griff. »Einige habe ich dem Tempel geschenkt. Andere habe ich zertrümmert. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie ständig in meiner Nähe zu haben, wenn sie mich doch nur daran erinnerten, daß ich nicht länger modellieren kann.« Sie nahm einen weiteren Schluck vom warmen Wasser. »Ich kann den Ton nicht mehr anfassen. Er ist so kalt, daß es mir in die Knochen fährt.« Sie hob den Kopf und studierte Inanna mit klaren, hellen Augen. »Hilf mir auf.«
Während sie sich mühselig aufrappelte, kippte das Tischchen vor ihr um, und die Tasse zerbrach auf den Fliesen. Inanna fing die Königin auf. »Ich muß dir unbedingt etwas zeigen, solange ich noch ein wenig laufen kann.«
Die Bediensteten eilten herbei, stellten das Tischchen wieder auf und sammelten die Tassenscherben ein. Einer von ihnen wollte sogar die Königin von der anderen Seite stützen, aber die alte Frau winkte ihn mit einer unwilligen Handbewegung fort. »Nein, nur die
Joyta.
Ihr anderen bleibt hier.« Sie flüsterte Inanna etwas ins Ohr: »Siehst du, ich kann noch immer so boshaft und unleidlich sein wie früher.« Sie kicherte. »Ich bringe dich nach oben zum königlichen Horst. Verflucht viele Stufen bis dorthin, den ganzen Weg hinauf bis zur höchsten Stelle des Palasts.« Sie humpelte auf die Tür zu, klammerte sich an Inannas Arm und fluchte bei jedem Schritt. »Diese verwünschten Füße, verflucht sei das Alter und verdammt die, die diesen Bann über mich gelegt hat! Möge Hut sie in Ihrer Hölle verrotten lassen!«
»Ein Bann?«
»Natürlich, was denkst du denn?«
»Ich dachte, Ihr wärt vielleicht krank.«
Als sie die ersten Stufen in Angriff nahmen, keuchte die Königin schwer und bewegte sich so schwerfällig wie ein Schwimmer, der bereits seit Stunden im Wasser war. »Rheti hat den Kältebann über mich gebracht.«
Die Kälte in den Höhlen unter dem Tempel. Der Atem, der wie eine weiße Wolke aus dem Mund trat. Inanna erschauderte und dachte: Bitte laß sie sich irren. Bitte laß diesen Fluch nur ein Produkt ihrer Einbildung sein. Was konnte ein Speer gegen das personifizierte Böse ausrichten?
Die Stufen führten zu einer weiteren Treppe, ein schmales, sich windendes Gebilde. »Hier entlang.« Die Wände waren weiß, und auf ihnen wechselten sich Lichtpfeile mit Schattenzonen ab. Sie waren nun schon sehr hoch über dem eigentlichen Palast. Durch einen der Sichtschlitze konnte Inanna einen Blick auf die Stadt und das Umland unter ihr werfen: der weiße Kreis der Stadtmauern, die Kornfelder und das Vorgebirge. Hinter den Hügeln ragten, gerade noch durch den Hitzeschild zu erkennen, die Berge auf. Auf den höchsten Gipfeln lag bereits der erste Schnee. Ein Kälteschauer fuhr durch ihren Körper. Der Kältebann. Vor ihr mühte sich die Königin fluchend weiter hinauf. Inanna schob eine Hand ins Sonnenlicht und erfreute sich an der Wärme. Die Königin war eine Greisin, war krank und wohl auch schon etwas wunderlich im Kopf.
Endlich erreichten sie die letzten Stufen. Vor ihnen hing ein staubiger roter Vorhang. Inanna war sich nicht sicher darüber, was sie auf der anderen Seite erwartete. Vielleicht ein Lagerraum, vielleicht auch eine Art Aussichtspunkt. Die Königin schob den Vorhang mit einer Hand beiseite. »Willkommen im Horst der Königin. Nun steh hier nicht so herum, sondern komm mit hinaus.« Inanna fand sich in einem Garten wieder. Nicht besonders groß und nur zum Himmel hin offen; aber er enthielt Blumen von allen Formen und Farben: langstielige Lilien, Kornblumen, wohlduftende Reben, Jasmin. Große Orangenblüten, von denen ein berückendes Aroma kam, und kleine Irisse, die kaum größer waren als ihr Daumen. In einer Ecke plätscherte ein Miniaturwasserfall in ein kleines Becken, und nicht weit davon war eine Statue halb unter Wildrosen verborgen. Eine plastische Figur mit gesenktem Blick und einem so heiteren Lächeln auf den Lippen, als würde sie träumen.
»Wie wunderbar«, bemerkte Inanna. »Alles hier ist wunderbar.« »Es gehört dir«, erklärte die Königin. »Du mußt ihn lediglich selbst hegen und pflegen. Das ist das Geschenk der Königin an' die
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