Kornmond und Dattelwein
über die Stadt antreten, Joyta«, flehten sie. Sie verbeugten sich tief vor ihr und weigerten sich, wieder hochzukommen. »Ihr müßt auf dem Thron sitzen und an Stelle der Königin regieren, bis sie wieder bei Sinnen ist. «
»Aber das kann ich nicht, wie sollte mir das möglich sein ?« »
Joyta
, die Stadt steht am Rande des Ruins. Schlamm und Treibsand verstopfen die Bewässerungskanäle. Die Stadtmauern zerbröckeln. Und die Menschen in den weit draußen liegenden Dörfern drohen zu verhungern. Bitte!«
»Laßt euch doch von der Königin unterrichten, was zu tun ist.« »Sie weigert sich, ihre Gemächer zu verlassen und uns anzuhören. «
»Nun, ich weigere mich ebenso. Ich weiß nicht, wie man eine Stadt regiert. Ihr wärt besser dran, wenn ihr euer Schicksal selbst in die Hand nehmen würdet.«
Aber am nächsten Tag kamen die sechs Gefährtinnen wieder, und auch am Tag danach und am Tag nach dem, bis Inanna sich endlich bereit erklärte, in die Große Halle zu gehen und sich dort die Ratgeber und die Bittsteller anzuhören.
Drei Kühe aus dem Dorf Molli liefen wieder einmal frei in den Kornangern herum. Ein Mann führte Klage gegen seine Schwester, sie habe ihm einen Sack Salz gestohlen. Ein Baumeister erklärte, wenn nicht neue Rinnsteine errichtet würden, würden in der nächsten Regenzeit dem Marktplatz und den Straßen irreparabler Schaden zugefügt. Inanna fühlte sich hilflos, kam sich fehl am Platz vor. Was wußte sie schon von Salz, von Kühen oder von Abflußanlagen? So vieles hatte sie zu lernen.
»Du wächst an deiner Aufgabe«, erklärte ihr Seb immer wieder. »Königin zu sein ist nicht schwieriger als alles andere auch. Man braucht halt nur etwas Übung dazu.« Seb war ihr zu einem sehr guten Freund geworden. Wie froh sie war, ihn hier ständig in ihrer Nähe zu haben. Oft, wenn sie auf dem Thron saß, bat sie Seb, sich neben sie zu stellen, damit er ihr den einen oder anderen Rat zuflüstern konnte. Ob er sich noch an die Nacht erinnerte, die sie zusammen verbracht hatten? Sie wünschte sich, er hätte sie vergessen. »Nimm von mir, was du willst«, schienen seine Augen sie unentwegt aufzufordern. Sie nahm lieber nur das von ihm, was ihr nicht gefährlich werden konnte, oder genoß seine Unterstützung und Freundlichkeit. Aber was die Leidenschaft anging, so ließ sie diese auf sich beruhen und tat so, als sei die nie aufgekommen oder zumindest längst vergangen. Manchmal, wenn sie unerwartet den Blick von den Bittstellern abwandte und zur Seite sah, überraschte sie Seb. Dann stand einen Augenblick lang die tiefste Zuneigung in seinen Augen, bevor er sie wieder verbergen konnte. Bei solchen Gelegenheiten wurde sie schwach, gab sich dem Genuß seiner Liebe hin und wurde regelmäßig wütend, weil sie dort nahm, wo sie nicht geben konnte. Und dann verbannte sie wieder alle Gefühle für ihn aus ihrem Gedächtnis.
Wenn sie auf Sebs Gesicht sah, entdeckte sie dort den Geist Enkimdus. Diese Züge drangen wie ein Stein in einem Brunnen bis zu den tiefsten Stellen ihres Innern hinab. Dann erhob sie sich abrupt, verließ wortlos die Halle und zog sich in ihre Gemächer zurück. Dort nahm sie das goldene Diadem und die kostbaren Gewänder ab. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, ihren Speer mit solcher Wucht ins Ziel zu schleudern, daß er bis zur Hälfte des Schafts darin verschwand. Zwanzig-, dreißig-, vierzigmal. Eine gute Axt in der Hand und ein Bogen, den sie so gut bediente, als sei er ein Teil ihres Arms: das waren die wichtigen Dinge in ihrem Leben, die Dinge, auf die es wirklich ankam.
»Nun bist du eine Soldatin«, erklärte ihr Lyra eines Morgens. Die Tage waren wieder kälter und kürzer geworden, und über den Himmel zogen Scharen von Wolken von der Farbe von schmutzigem Schnee. Inanna zitterte unter ihrer Rüstung und klatschte in die Hände, um sie zu wärmen.
»Eine wie gute Soldatin?«
»Nicht so stark wie einige der Männer, aber gut in Unerbittlichkeit und Angriffslust.«
»Das ist nicht gut genug.« Fünfzigmal in Folge das Ziel getroffen. Sechzigmal. Ihre Muskeln wurden stetig fester. Im Thronsaal verstand sie die Anliegen der Bittsteller immer besser.
Wieder eine neue Jahreszeit. Jenseits der Stadtmauern erblühten Blumen auf den freien Stellen zwischen Gerste und Weizen. Neue Zwiebeln kamen, dünn und grün wie die Wimpern einer Göttin. Auf dem Markt lagen Fische luftschnappend in nassen Flechtkörben. Neue Rinnsteine strömten zum Fluß und trugen
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