Kornmond und Dattelwein
Göttin: die Erhaltung und Pflege eines vollkommenen Gartens mit den eigenen Händen.« Sie verschränkte ihre geschwollenen Hände unter der umgehängten Decke. Stolz und Trauer waren in ihren Augen. »Heute übergebe ich ihn dir. Die Treppen, hier hinauf sind mir zu steil geworden. Ich komme nicht mehr hierher.« Sie hielt inne, um zu Atem zu kommen. »Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem meine Mutter mich hier hinaus geführt und mir das erzählt hat, was ich dir nun erzählen will. Das war auch das letzte Mal, daß wir uns vor ihrem Tod gesehen haben.« Die Königin stand vorgebeugt da und starrte auf die Blumen, auch wenn sie sie gar nicht zu sehen schien. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wie töricht, hier herumzustehen und an die Vergangenheit zu denken. Das muß wohl etwas mit der geistigen Verwirrung des Alters zu tun haben.« Sie griff nach Inannas, Arm. »Komm, ich habe dir hier einiges zu zeigen.« Sie begaben sich zu der Statue, und Inanna berührte mit den Fingerspitzen zärtlich das steinerne Gesicht. Obwohl die Zeit und das Wetter ihre Spuren auf der Figur hinterlassen hatten, fühlte sich die Oberfläche weich wie Lammhaut an.
»So etwas habe ich noch nie gesehen. Wen stellt sie dar?« »Die erste Mutter.«
»Sie muß vor sehr langer Zeit gelebt haben.«
»Bevor es die Stadt gab. Sie hat in mir den Wunsch ausgelöst, Statuen zu modellieren. Ich bin sehr oft hier hinauf gekommen, habe ihr Gesicht betrachtet und bin dann an meine Werkbank zu rückgekehrt, um dieses Lächeln von ihr nachzubilden. Ich denke, die Künstlerin, die dieses Werk geschaffen hat, muß mehr als nur menschlich gewesen sein.« Die Königin lief mit Inanna in eine, andere Ecke des Gartens, wo ein kleiner Apfelbaum an einem
Spalier an der Wand hochgezogen worden war. Seine Früchte waren klein und hart.
»Aber sie schmecken süß«, sagte die Königin und reichte Inanna einen Apfel. Die alte Frau bückte sich tief und fing an, an einem großen Stein zu zerren. »Uff«, stöhnte sie, »verdammt noch mal.« »Was treibt ihr denn da?«
Die Königin lachte. »Ich will dir dein Erbteil geben. Doch wenn ich du wäre, würde ich es verweigern. Willst du immer noch in deine Rerge zurück? Nun, jetzt wäre der günstigste Zeitpunkt, dorthin zu fliehen. Wenn du nur noch ein Weilchen länger wartest, ist es wahrscheinlich schon zu spät dafür.«
Inanna half der Königin, den glitschigen und moosbedeckten Stein zu heben. Darunter lag in einer Mulde ein weißes Stoffbündel, das mit kleinen, goldenen Tauben verziert war. Es sah sehr alt aus, so als ruhte es dort schon seit einer Ewigkeit.
»Hol es heraus und wickel es auf«, sagte die Königin. In dem Tuch war ein Stein von der Größe eines durchschnittlichen Rettichs. Er war wabenartig gelöchert und wie von Ruß geschwärzt. Inanna war zuerst enttäuscht. Aber was hatte sie denn eigentlich als besonderes Geschenk von der Königin erwartet? Eine magische Axt, die jegliches Material durchtrennen konnte? Dennoch war dies nichts anderes als ein Stück Metallschlacke. Sie fragte sich, wie jemand auf die Idee verfallen konnte, einen solchen Keil nicht nur aufzuheben, sondern auch noch an einem solchen Ort zu verbergen.
Was ist das?«
»Ein Wandelstein.«
Ein was?«
Die Königin ließ sich mühselig auf einer kleinen Bank nieder und Haß eine Weile stumm da, während sie auf die Wasserlinien im kleinen Becken zu starren schien. »Komm, setz dich zu mir«, sagte sie schließlich, »denn ich muß dir eine Geschichte erzählen. Meine Mutter hat mir diese Geschichte auch erzählt, und sie hat sie wiederum von ihrer Mutter. Du kannst sie glauben oder auch nicht, ganz wie es dir beliebt.« Nichts war im Garten zu hören außer dem Plätschern des kleinen Wasserfalls und dem monotonen Zirpen einer Zikade. Inanna setzte sich ins Moos und legte den Stein in den Schoß.
»Vor langer Zeit, bevor die zweite Mauer um die Stadt gebaut war, fiel ein Stern vom Himmel. Und als die Menschen hinausströmten und auf den Feldern entdeckten, was für ein gewaltiges Loch er dort hineingeschlagen hatte, fanden sie auch den Keil, den du im Schoß hältst.« Inanna sah den Stein nun mit anderen Augen. Ein Stück von einem Stern. Sie fragte sich kurz, warum die Sterne weiß vom Himmel schienen, dieser Stein hier aber schwarz war. Vielleicht waren sie wie große Feuer, von denen so etwas wie Holzkohle übrigblieb, wenn sie ausgebrannt waren ...
» . hatten die Menschen Angst vor dem Stein und wollten ihn
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