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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Lyra rief sie zu sich. »Ich habe vergessen, dir noch eines zu sagen.«
    »Und das wäre?« Die Sonne stieg jetzt den Himmel hoch, und der Himmel im Osten hatte die Farbe von Granatapfelsaft angenommen. Lyra betrachtete Inanna, die mit dem Speer in der Hand vor ihr stand. Ihr Gewand wurde vom Licht rot beschienen. Die Farbe von Blut, dachte Lyra, und später fragte sie sich, ob das ein Omen gewesen sein mochte.
    »Laß die Königin nicht wissen, daß du hierhergekommen bist. Verlasse die Kaserne durch das kleine Seitentor hinter der Küche und gib der Wächterin etwas, damit sie in eine andere Richtung sieht. Wenn die Königin herausfindet, daß du dich bei den Soldaten tummelst, entscheidet sie sich vielleicht dagegen, dich zu adoptieren.«
    »Mich zu adoptieren?«
    »Großgütige Göttin, hast du denn tatsächlich nichts davon bemerkt? Die ganze Stadt spricht doch von nichts anderem mehr. Sie will Alna als ihre Enkelin annehmen und dich zur Joyta machen.« »Zur was?«
    »Zur
Joyta,
zur offiziellen Thronerbin.« Lyra legte Inanna sanft die Hände auf die Schultern. »Das heißt, daß du nach ihrem Tod Königin wirst.«
    »Aber ich will gar nicht Königin werden!« Der Speer fiel ihr aus der Hand und rollte ein Stück weit über den staubigen Boden. Alna schrie aus Leibeskräften, weil der Tonfall ihrer Mutter sie sehr erschreckte. »Ich kann nicht Königin werden!«
    Doch, sie konnte Königin werden, und nicht einmal die schlechteste. Und wenn die Königin sie schon zur
Joyta
machen wollte, blieb ihr ja ohnehin keine Wahl mehr. Das Schlimmste an Inanna war, sagte sich Lyra, daß sie über alles zuviel grübelte und nachdachte. Der Kopf war aber den Menschen nicht gegeben, um ihn sich auch über Kleinigkeiten zu zerbrechen.
    Lyra hob den Spieß auf. »Geh jetzt wieder zur Mauer und übe dich im Speerschleudern.« Aber statt dessen trat Inanna in die Kammer, packte sich Alna und drückte sie lange an ihre Brust. Sie sieht so aus, als würde sie sich Gedanken um das Baby machen, dachte Lyra, dabei grübelt sie doch wahrscheinlich darüber, wie sie Königin werden soll. Irgend etwas schien hier in Unordnung geraten zu sein. Lyra konnte die Konfusion fast körperlich unter sich wachsen spüren, wie Pilze auf einem faulenden Baumstamm. Aber solche Gedanken waren töricht und einer Soldatin nicht wert.
    Wenige Wochen später, an einem unerträglich heißen Tag im Monat der Ähre, bestimmte die Königin Inanna offiziell zu ihrer Nachfolgerin.
     

Die Macht
     
    Meinen langen Speer will ich schleudern auf Kur
    Meine scharfe Lanze will ich gegen ihn richten
    In seinen Wäldern will Feuer ich legen
    Und auf den Hals seines Häuptlings will ich meine Bronzeaxt schlagen.
    Wie ein Berg will ich ihn überrollen und seinen Schrecken beenden.
    Wie bei einer verfluchten Stadt soll ihm keine Milde zuteil werden.
    Denn ich bin Inanna die Kriegerin
    Denn ich bin Inanna die Drachentöterin
    Denn ich bin Inanna die Himmelskönigin.
     
    Sumerisches Gedicht, entnommen einer Tafel, die sich heute im Besitz der Hilprecht-Sammlung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena befindet; Entstehungsdatum unbekannt.
     
    Die Götter sehen alles voraus bis auf ihren eigenen Untergang.
     
    Spruch auf einem babylonischen Zylindersiegel aus dem zweiten Jahrtausend.
     
     

I
    Was ist Zeit? Wer vermag ihren Fluß zu verfolgen? Ist die Zeit wie der Wind – eine gewaltige, unsichtbare Macht, die alles verändert –, oder ist sie das Produkt eines kollektiven Traums? Der Fluß schwoll an, sank ab und schwoll wieder an. Das Korn wurde gesät und verrottete in der nächsten Jahreszeit auf den Feldern. Alna machte ihre ersten Schritte, und die Königin zog sich auf Dauer in ihre Gemächer zurück, wo sie niemandem bis auf ein paar Bedienstete sehen wollte. Niemand wußte, ob sie krank oder verhext war oder gar im Sterben lag. Panik lag in der Luft. Die Blumen in den königlichen Gärten verwilderten, weil niemand mehr die Anordnung erteilte, sie zu wässern. Haufen von zerbrochenem Steingut und zerschmetterter Keramik wurden sorglos in irgendwelche Ecken gestoßen. Überall um sie herum erlebte Inanna, wie der Hof wie ein zerbrochenes Wasserrad zerfiel. Eines Morgens dann, kurz vor dem Beginn der Regenzeit, kehrte sie aus der Kaserne zurück und wurde in ihren Gemächern von sechs Königinnengefährtinnen erwartet. Sie trugen ihre vornehmsten Gewänder und hielten zum Zeichen ihrer Ehrerbietung die Sandalen in den Händen.
    »Ihr müßt die Herrschaft

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