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Korona

Korona

Titel: Korona Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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hatte, sie würden ihre Köpfe zusammenstecken.
    Sie tauchten in das Gewimmel der Häuser ein. Der Himmel schrumpfte auf einen blässlichen Streifen zusammen, durch den weder Licht noch frische Luft in die Gassen drang. Hölzerne Stege verbanden die Dächer miteinander – Abkürzungen für alle, die dem Schmutz und der Düsternis der Straßen entfliehen wollten. Und das war nur zu verständlich. Denn während in den oberen Stockwerken die Luft noch halbwegs frisch gewesen war, regierte hier unten der Unrat. Fleckiger, glitschiger Abfall bedeckte das Netz von Gassen, in denen der Gestank wie Fischsuppe schwappte. Menschen drängten aneinander vorbei und bildeten ein unentwirrbares Knäuel, auf dem die Sänfte wie auf einem braun gefleckten Fluss dahintrieb. Schwefelig aussehende Dämpfe stiegen aus den Kanaldeckeln und umwaberten die Knochen verwesender Tiere, an denen rattenähnliche Kreaturen nagten. Aus den lehmbeschmierten Behausungen, die wie Gerümpel links und rechts in die Höhe ragten, drangen Geschrei und Essensdüfte. Zu Hunderten drängten sich die Menschen an den Fenstern, um die Sänfte zu begaffen, die schaukelnd an ihnen vorüberglitt. Mehr als einmal wurde Amy von braunen abgemagerten Händen berührt, die aus den Fensterschächten herausschnellten und rasch wieder darin verschwanden.
    »Das ist also das goldene Kitara, die Perle Afrikas«, sagte Dan mit leiser Stimme. »Nicht gerade ein Paradies, oder? Wo ist all der Reichtum, die Weisheit und die Güte geblieben, von denen in den Geschichtsbüchern die Rede ist? Entweder waren die Historiker auf dem Holzweg oder aber die Menschen haben sich zu einer primitiven, atavistischen Form zurückentwickelt. Sieh dir das bloß an. Der Wahnsinn scheint hier regelrecht Methode zu haben. Keines der Gebäude scheint in irgendeiner Weise geplant zu sein. Hier gibt es keine gerade Linie und keine perfekte Rundung. Man hat einfach Haus auf Haus gestellt, in der Hoffnung, dass es nicht zusammenbricht. Verglichen damit ist ein Ameisenbau ein Wunder der Ordnung. Mit dem Kitara, von dem ich gehört habe, hat das recht wenig zu tun.«
    »Manchmal entwickeln sich Kulturen eben in die falsche Richtung«, sagte Amy. »Wer hat je behauptet, dass die Menschheit zu einer immer besseren, immer ›humaneren‹ Form voranschreitet? In unserem tiefsten Inneren sind wir immer noch Höhlenmenschen. Oft genügt ein nichtiger Anlass, um uns wieder auf null zurückfallen zu lassen.« Amy blickte mit Abscheu auf den Unrat und das Elend. Vielleicht waren die Menschen hier tatsächlich wahnsinnig geworden. Vielleicht hatten sie beim Betreten der neuen Welt allesamt den Verstand verloren. Wenn man die Stadt als Spiegel der Seele verstand, dann präsentierte sich hier das Innere einer zutiefst verwirrten und orientierungslosen Spezies. Ein stinkender, vor Elend und Schmutz dahinsiechender Moloch, vergleichbar den Elendsvierteln in Kalkutta, Rio oder Lagos. Der Gestank war so allumfassend, dass er bis in die tiefsten Poren drang. Und dann dieser Lärm. Gequälte Schreie, dumpfes Grunzen und das Rumpeln irgendwelcher großer Maschinen ließen unangenehme Bilder entstehen – die Hölle, wie Dante Alighieri sie in seiner
Göttlichen Komödie
beschrieben hatte. Allenthalben sah man Affen, die zu Sklavenarbeiten gezwungen wurden und denen man ansah, wie schlecht es ihnen ging. Zerlumpte, abgemagerte Kreaturen, denen der Tod wie ein Segen und eine Erlösung vorkommen musste.
    Amy spürte, dass sie dieses Elend nicht länger ertragen konnte. Sie tippte ihrem Führer auf die Schulter.
    Der fette Würdenträger unterbrach die Litanei von Flüchen und Beschimpfungen, mit denen er ihre Träger traktierte, und wandte sich zu ihr um. »Ja?«
    »Es gibt so vieles, das ich nicht verstehe«, sagte sie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
    Der Botschafter lächelte beglückt. »Es ist mir eine Ehre. Was möchten Sie wissen?«
    »Fangen wir doch mal mit Ihnen an«, sagte sie. »Ich bewundere die Art, wie Sie selbst schwierige Worte beherrschen. Wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so gut sprechen?«
    Oyos Lippen verzogen sich zu einem wulstigen Lächeln. Er zog ein kleines zerfleddertes Buch aus den Tiefen seines Umhangs und schlug es auf. Amy nahm es in die Hand und blätterte darin herum. Es war ein in Leder gebundenes Buch in englischer Sprache. Das Papier war fleckig und vergilbt. Mit wachsendem Interesse überflog sie die feinen, handgeschriebenen

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