Korona
»Das ist Leonidas, der Chef. Keines der Tiere scheint verschwunden oder verletzt zu sein. Die Gruppe ist vollzählig und augenscheinlich bei guter Gesundheit. Glück gehabt.«
»Irgendetwas ist aber mit dem Dicken heute los«, kommentierte Karl. »Er beobachtet uns die ganze Zeit und scheint ziemlich nervös zu sein.«
Ray starrte nervös in die Dunkelheit. »Vielleicht sollten wir lieber verschwinden.«
»Sie haben recht.« Amy stieß noch ein paar beruhigende Laute aus, dann signalisierte sie den anderen, den Rückzug anzutreten. In diesem Moment richtete sich der Silberrücken auf und ließ seine Arme durch die Luft schwingen. In seiner rechten Hand hielt er einen Knüppel. Mit seinen abgeflachten und zugespitzten Enden sah er einer Axt zum Verwechseln ähnlich. Dreimal ließ Leonidas ihn über seinem Kopf kreisen, dann setzte er ihn wieder ab.
»Himmel, der hat ja eine Waffe«, entfuhr es Ray.
»Allerdings«, sagte Amy. »Und zwar eine durchaus effektive. Ich bin sicher, dass keiner von uns Lust hat, damit Bekanntschaft zu schließen. Machen wir, dass wir hier wegkommen.«
Langsam und vorsichtig verließen sie die Höhle. Leonidas beobachtete sie aufmerksam, folgte ihnen aber nicht. Nach ein paar Minuten waren sie wieder im Freien.
»Eine
Waffe?
« Ray konnte es immer noch nicht fassen. »Ich habe noch nie gehört, dass Gorillas so etwas benutzen.«
»Tun sie normalerweise auch nicht.« Amy klopfte den Staub von ihrer Hose, dann trat sie den Weg zurück zum Lager an. »Bis auf diese Gruppe hier. Alle in der Familie sind dazu in der Lage, einschließlich der Jungtiere.«
»Können sie auch damit umgehen?«
»Darauf kannst du wetten«, sagte Mellie. »Wir haben mal beobachtet, wie Leonidas auf eine Horde Wildhunde losgegangen ist, die in sein Territorium eingedrungen waren. Er hat die Waffe benutzt wie ein Jäger. Es sah aus, als hätte er noch nie in seinem Leben etwas anderes getan.«
»Sie stellen sogar Werkzeug her, Dinge, die sie für ihr tägliches Leben benötigen«, fuhr Amy fort. »Schneidewerkzeug, Grabwerkzeug, sogar Zahnstocher. Da sie auf diese Weise viel mehr Nahrungsmittel gewinnen können, brauchen sie nicht mehr in der Gegend herumzuziehen. Hinzu kommt, dass sie über ein großes Spektrum an Lauten verfügen. Viel größer als bei normalen Gorillas. Will hat über einhundert verschiedene Vokale und Konsonanten identifiziert. Sie stehen kurz davor, eine hochentwickelte Sprache zu erlernen.«
»Erstaunlich.«
Amy lächelte. »Erstaunlich? Das ist eine Sensation!«
Ray tauchte unter einem Ast hindurch, der seinen Weg versperrte und hob ihn an, damit die anderen passieren konnten.
»In den Berichten, die ich über Burke gelesen habe, stand nichts darüber«, sagte er. »Warum diese Geheimniskrämerei?«
»Wir müssen das tatsächliche Ausmaß ihrer Veränderung geheim halten.« Amy strich über ihre Haare. »Ein Bekanntwerden würde vermutlich zu einem ziemlichen Hype führen und die Gorillas ins Rampenlicht der Medien ziehen. Sie wissen ja, wie niedrig ihre Reproduktionsrate ist und wie empfindlich sie auf jede Art von Störung reagieren.« Sie blieb kurz stehen. »Ich muss Sie eindringlich darauf hinweisen, dass Sie nichts von dem, was Sie hier gesehen haben, nach außen tragen dürfen. Nur wenige wissen darüber Bescheid, und so soll es vorerst auch bleiben.«
»Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen.«
»Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, was dieser Fund bedeutet?«, fragte sie, während sie weiterging.
»Sie meinen, dass es ein Sprung in der Evolution ist?« Er nickte. »Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«
»Dann sagt Ihnen ja bestimmt auch der Begriff
Ratschen-Gen
etwas.«
Ray hob den Kopf. »Das Gen zur Unterstützung der Lernfähigkeit? Aber natürlich.«
»Burke konnte seine Existenz bei diesen Gorillas nachweisen.«
Ray hob erstaunt die Brauen. »Ist nicht möglich. Ich dachte, das gibt’s nur bei Schimpansen.«
»Und bei Menschen.«
»Was ist eine Ratsche?« Mellie blickte verwirrt zwischen den beiden hin und her. »Kann mich mal jemand aufklären.«
»Eine rotierende Holzscheibe mit einem Zahnrad dran«, erläuterte Amy. »Im übertragenen Sinne heißt das, dass die Wissensspirale immer weiter läuft und nicht auf null zurückfällt. Zum Beispiel verfügen wir Menschen über die Fähigkeit, gesammelte Erfahrungen schriftlich niederzulegen und so für die nächste Generation bereitzustellen. Ohne das Gen, das uns diese Fähigkeiten erlernen
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