Korona
was er einmal für ein Mann gewesen war. Einsneunzig groß, breite Schultern, dunkles Haar. Eine scharf geschnittene Nase und ein Mund, der immer zu einem ironischen Lächeln geformt zu sein schien. Ein Mann, der schon rein äußerlich ein Maß an Willenskraft und Moral widerspiegelte, wie man es heutzutage nur noch selten fand. Ein einsamer Mann. Seit der Scheidung hatte er nie wieder eine Beziehung zu einer anderen Frau gehabt. Zumindest keine, von der Amy wusste. Er hatte nur noch gearbeitet, war von früh bis spät in der Firma gewesen, außer an den Wochenenden, an denen er mit ihr lange Ausflüge entlang Kaliforniens herrlicher Küste gemacht hatte.
»Wie geht es dir, mein Kleines?«
»Gut.« Sie wischte über ihre Augen. »Das Studium frisst mich auf, aber es ist wahnsinnig interessant. Ich habe das Gefühl, dass täglich neue Entdeckungen in der Verhaltensforschung gemacht werden. Ich komme kaum hinterher, den ganzen Stoff für meine Zwischenprüfung zu lernen, weil ich mich ständig in Fachbereichen verzettele, für die ich mich gar nicht angemeldet habe. Neulich kamen neue Untersuchungsberichte über das genetische Material der Bonobos, der Zwergschimpansen, herein. Verblüffend, wie nah wir mit ihnen verwandt sind. Es ist schon beinahe unheimlich.«
»Du und deine Affen.« Ein Rasseln drang aus seiner Kehle. Es war mehr ein Keuchen als ein Lachen.
»Ja. Ich und meine Affen.« Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang nur halb. »Eine unendliche Geschichte.«
»Die Menschenaffen in San Diego … du warst wie besessen von ihnen. Kein anderer Wunsch … als Biologie zu studieren. Dabei wollte ich so gern, dass du in meine Fußstapfen trittst.«
Amy faltete die Hände. Bitte nicht noch eine Diskussion über enttäuschte Erwartungen und zerstörte Hoffnungen. Davon hatten sie seit ihrer Entscheidung, Biologie an der UCLA zu studieren, schon genug gehabt. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Wirklich.«
Ihr Vater wollte etwas sagen, doch es endete in einem Hustenanfall. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme so dünn wie Glas. »Das muss es nicht«, keuchte er. »Ich habe inzwischen eingesehen, dass es mein Fehler gewesen ist. Mein übertriebener Ehrgeiz … er hat immer alles kaputt gemacht. Meine Ehe, meine Freundschaften und meine Beziehung zu dir. Ich war förmlich zerfressen von Erwartung und Pflichtgefühl. Es war ein Kreislauf, aus dem ich nicht mehr herausgekommen bin. Es tut mir leid.« Er sah sie mit kummervollen Augen an. »Mach nicht den gleichen Fehler wie ich«, flüsterte er. »Setze die Menschen nicht zu sehr unter Druck, und verliere dich nicht zu sehr in deinen Pflichten. Vergiss nicht zu leben. Du hast nur diese eine Chance.«
Amy nahm seine Hand und drückte sie.
Sie war eiskalt.
Das Innere der Hütte war dunkel und rauchgeschwängert. Tränen rannen ihr aus den Augen. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft. Es stank scharf und süßlich zugleich, als ob etwas langsam verweste.
»Hallo?«
Sie wischte die Tränen aus ihren Augen und lauschte in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
»Ist da jemand?«
In die Stille hinein war das Knistern von Räucherwerk zu hören. Ein einzelner Lichtstrahl durchkreuzte den Raum, traf auf der Gegenseite auf einen Schild aus blankem Metall und wurde in einer Vielzahl von Spiegelungen gebrochen. Zu schwach, um den Raum zu erhellen, aber zu stark, um nicht davon geblendet zu werden, machte das Licht es ihr schwer, sich zu orientieren. Rauch stieg kräuselnd in die Luft und löste sich in geisterhaften Schemen auf. Als sie Einzelheiten erkennen konnte, stockte ihr der Atem. Das Heiligtum der Bugonde war angefüllt mit Statuen, Totems und Reliquien. Neben ihr hing ein toter männlicher Gorilla, dem man die Genitalien abgeschnitten hatte. Sein Körper war mit weit ausgestreckten Armen an die Wand genagelt worden. Schädel von Buschböcken, in deren Augen Holzpflöcke getrieben worden waren, hingen neben Schlangen mit weit aufgerissenen Mäulern. Amy bezähmte ihren Ekel und ging weiter. Mellie, die neben ihr stand, hielt die Hand vor die Nase. Der Gestank war überwältigend. Amy machte kehrt und sah, dass sie allein waren. Der Wachposten war draußen geblieben.
Seltsam.
In den meisten Naturvölkern wurde das Oberhaupt eines Stammes besser geschützt als der Goldvorrat von Fort Knox. Entweder war dieser Stamm friedfertiger als es den Anschein hatte, oder man hielt die fünf Wissenschaftler nicht für eine Bedrohung. Was wiederum den
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