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Korona

Korona

Titel: Korona Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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auf ihren Köpfen.
    Kurze Zeit später erreichte die Gruppe die Oberkante des Felsvorsprungs. Düster und bedrohlich ragte die kuppelartige Hütte in den von Regenwolken durchzogenen Himmel. Zwei riesige Totems, ganz ähnlich dem, das sie am Eingang des Tals gesehen hatten, flankierten den verschachtelten Bau, der von einer Kuppel aus Bambusstangen gekrönt wurde. Der Eingang war mit roter Farbe bemalt und erinnerte an eine Vagina. Zwei Kriegerinnen standen davor, ebenso prächtig gekleidet wie die Torwache und mindestens ebenso schwer bewaffnet. Sie wechselten ein paar Worte mit ihrer Kollegin, dann verschwand eine von ihnen im Eingang.
    Ray trat an das hölzerne Geländer und blickte hinab in die Tiefe. Wie ein Flickenteppich bedeckten Äcker und Weiden die Talsohle. Hier und da war ein Feuer zu sehen, dessen Qualm bis in die Höhenlagen des Nebelwaldes stieg. Das Rauschen des Wasserfalls hatte eine beruhigende Wirkung.
    »Mmh, riecht ihr das auch?« Mellie hielt schnuppernd die Nase in den Wind. Aus der Siedlung unter ihnen wehte der Duft von Holzkohlefeuern und geröstetem Fleisch zu ihnen herauf.
    Ray spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
    »Das riecht wirklich gut«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, endlich mal wieder etwas anderes zwischen die Zähne zu bekommen als diesen synthetischen Fraß. Reiseproviant hin oder her, aber von diesem Trockenfutter bekommt man auf Dauer Magengeschwüre.«
    »Wenigstens fängt man sich damit keine Koliken ein«, sagte Dan. »Ihr könnt von mir aus gern auf einheimische Küche umsteigen, ich für mein Teil esse lieber Tütensuppe. Wer weiß, was die einem hier vorsetzen? Gibt es eigentlich Fälle von Kannibalismus in dieser Region, Amy?«
    Die Biologin kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Augenblick trat die dunkelhäutige Kriegerin aus der Hütte und winkte ihnen zu.
    »Ich glaube fast, das ist unser Zeichen«, sagte Karl. »Scheint, als würden wir zur Audienz geladen.« Er wollte gerade vorangehen, als die Kriegerin ihm mit ihrem Speer den Weg versperrte. Hilfesuchend sah er sich um.
    »Was soll das denn jetzt?«
    Die Amazone deutete auf Amy und Mellie.
    Mellie warf Karl einen schelmischen Blick zu. »Wie es aussieht, ist es nur Frauen erlaubt, das Gebäude zu betreten. Pech gehabt, Dicker.«
    »Nenn mich nicht Dicker«, sagte Karl. »Abgesehen davon, was sollen wir solange machen?«
    »Macht euch schon mal Gedanken, wie wir an etwas Essbares kommen«, sagte Amy. »Unsere Vorräte sind ganz schön zusammengeschmolzen. Ihr könnt aber auch einfach auf uns warten und euch solange unterhalten.« Sie warf Ray und Dan ein schelmisches Lächeln zu. »Komm, Mellie, wir wollen unsere Gastgeberin nicht warten lassen.«
    »Seid vorsichtig, okay?«, sagte Ray. »Mir ist nicht wohl bei der Sache.« Er deutete auf die merkwürdige Verzierung am Türrahmen. Ihm war aufgefallen, dass das, was er auf den ersten Blick für weiße Zweige oder Äste gehalten hatte, beim näheren Hinsehen Fingerknochen waren. Und was da so rot leuchtete, war auch keine Farbe. Es war Blut.

16
    D as Krankenzimmer war luftig und hell. Sanftes Morgenlicht fiel durch eines der Fenster und warf Lichtstreifen an die Wand. Das monotone Piepsen des Gerätes zur Herz-Kreislauf-Überwachung sowie ihre quietschenden Schritte auf dem Linoleum waren die einzigen Geräusche, die an ihr Ohr drangen. Eine feine Andeutung von Desinfektionsmitteln wehte durch die Gänge, vermischt mit dem Duft von Blumen, die draußen vor der Tür standen. Auf dem Nachttischchen neben dem Bett lag Grishams
Die Akte.
Seit ihrem Besuch letzte Woche hatte sich nichts verändert. Das Buch war immer noch auf derselben Seite aufgeschlagen. Sie trat ein paar Schritte näher und sah, dass der Mann wach war. Seine Augen schimmerten in seinem verfallenen Gesicht wie zwei klare Bergseen.
    »Hallo, mein Engel.« Die Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. Amy erschrak, als sie erfasste, wie stark ihr Vater in nur einer Woche abgebaut hatte. Man konnte ihm beinahe dabei zusehen, wie er immer mehr verfiel. Er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Unheilbar.
    »Hi, Dad.«
    »Ich freue mich, dass du gekommen bist. Ich freue mich immer, dich zu sehen.«
    »Ich mich auch, Dad. Ich mich auch.« Sie zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder. Nicht, weil sie unbedingt sitzen musste – sie hatte zwei Stunden Autofahrt hinter sich –, sondern weil sie nicht auf ihn herabsehen wollte. Wie immer wenn sie ihn besuchte, musste sie daran denken,

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