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Korona

Korona

Titel: Korona Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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hinter ihr, vom Gebüsch beinahe vollständig verdeckt, standen zwei Personen. Ein runzeliger alter Mann und ein Junge von fünf, sechs Jahren. Beide starrten sie mit großen Augen an. Als Amy ihnen zuwinkte, kamen sie vorsichtig heraus. Ihre Kleidung bestand aus grob genähtem Stoff und Fellresten. Ihre Füße steckten in einfachen Ledersandalen. Der alte Mann trug einen Speer, während der Junge eine Sichel in der Hand hielt. Wie es aussah, waren die beiden gerade dabei, junge Bambustriebe zu ernten. An der linken Hand des Mannes fehlten zwei Finger. Abgebissen, abgefroren, wer konnte das schon sagen? Der Junge trug ähnliche Verstümmelungen.
    Amy sprach den Mann an. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er sie verstand, doch seine Haltung wirkte freundlich. Eine Weile tat er so, als würde er zuhören, dann lächelte er. Er ging ein paar Schritte voraus, dann machte er kehrt und gab ihnen mit seiner verkrüppelten Hand zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Der Junge wich nicht von seiner Seite.
    Als sie etwa zehn Meter entfernt waren, deutete Ray auf die Missbildungen. »Für was halten Sie das?«
    Die Biologin zuckte die Schultern. »Könnte eine Erbkrankheit sein. Degenerationserscheinung. Gibt es häufiger in solch entlegenen Gebieten.«
    Ray war nicht überzeugt. Die Narben sahen nicht nach einer Erbgeschichte aus. Er war kein Mediziner, aber er hätte schwören können, dass die Finger gewaltsam entfernt worden waren.
    Sein Verdacht wurde bestätigt, als sie die ersten Felder passierten. Hin und wieder waren Männer zu sehen, und allen fehlten Finger. Ihre Arbeitsgeräte waren mit Schlaufen und Lederriemen ausgestattet, damit sie überhaupt damit arbeiten konnten. Dürr und ausgemergelt standen sie auf der roten Erde und beackerten den Boden mit ihren primitiven Holzwerkzeugen.
    »Ich nehme alles zurück.« Amy blickte düster auf die halb verhungerten Kreaturen. »Hier stimmt tatsächlich etwas nicht.«
    »Könnten rituelle Verstümmelungen sein«, sagte Karl. »Denkt nur an die Lotusfüße chinesischer Frauen, denen man die Fußknochen bricht und sie dann zusammenschnürt, damit sie möglichst kleine und zierliche Füße bekommen.«
    »Oder die Giraffenhals-Mädchen in Thailand, bei denen die Hälse durch das Einsetzen von Messingringen unnatürlich gestreckt werden«, ergänzte Mellie. »Von der Beschneidung weiblicher Genitalien ganz zu schweigen. Aber ich habe noch nie gehört, dass es Stämme gibt, bei denen Männer verstümmelt werden.«
    »Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte Ray grimmig.
    Mellie machte unter der Hand weitere Aufnahmen. »Hat der Offizier nicht erzählt, das Dorf sei als Matriarchat organisiert?«
    »Hat er«, erwiderte Amy. »Warum?«
    »Schaut euch doch mal um. Es sind keine Frauen zu sehen.«
    »Vielleicht leben sie alle dort oben.« Karl deutete auf eine Ansammlung kugelförmiger Hütten, die hoch über ihren Köpfen in der Felswand klebten. Ray zwinkerte gegen das helle Tageslicht. Die Siedlung war viel größer, als es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Der Großteil der Gebäude lag raffiniert hinter einem Felsvorsprung verborgen und war vom Eingang des Tals aus nicht zu erkennen.
    Dan pfiff zwischen den Zähnen. »Was meint ihr, wie viele das sind? Dreißig, vierzig?«
    »Ich tippe auf mindestens achtzig«, sagte Amy. »Seht ihr die Verlängerung dieses steinernen Grates? Dahinter befinden sich noch mehr Gebäude. Der Offizier hat leicht untertrieben, als er von einem Dorf gesprochen hat. Es ist weit mehr als das, es ist eine Stadt.«
    »Und wie kommt man da hoch?« Mellie betrachtete die komplexe Struktur durch den Sucher ihrer Kamera. »Ich kann keinen Pfad oder etwas Ähnliches erkennen.«
    »Doch, da drüben.« Ray deutete auf eine Strickleiter, die von einem der Felsvorsprünge bis zu ihnen herunter reichte. Von dort aus hatte er einen Weg entdeckt, der über Treppen und Brücken bis zum Zentrum der Siedlung führte. Und der Alte hielt geradewegs darauf zu.
     
    Ein paar Minuten später hatten sie den Fuß der Felswand erreicht. Sie ergriffen die rauhen Seile und setzten ihre Füße auf die wackeligen Sprossen. Dann ging es hinauf. Hand für Hand, Fuß für Fuß. Schwarz und drohend ragte die Steilwand über ihnen auf. Das Gewicht ihrer Rucksäcke behinderte sie, doch irgendwie schafften es alle, weiterzukommen. Der Wind strich über ihre schweißnasse Haut, während sie sich mühsam nach oben kämpften. Ray fiel auf, wie ruhig es in der Umgebung war.

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