Korrupt (German Edition)
Passanten wie immer. Als sei nichts passiert. Als sei alles wie am Vortag und vermutlich auch wie am nächsten Tag. Langsam ging er die Götagatan entlang. Er fühlte sich vollkommen leer. Ein einzelner Regentropfen traf seine Stirn, aber er wischte ihn nicht weg. Er biss sich auf die Unterlippe. Sie hätten ihm im Präsidium genauso gut zehn Elektroschocks geben können. Er hatte Patrik versprochen, ihn anzurufen und zu erzählen, wie es gelaufen war. Aber dazu war er nicht imstande und würde es vielleicht nie mehr sein. Denn dann müsste er ihm in die Augen sehen und sagen müssen, dass er seine Frau belogen hatte. Dass er ihn belogen hatte. Patrik war für ihn da gewesen. Sie waren alle für ihn da gewesen. Sie hatten Fragen gestellt, und er hatte geantwortet. Aber er hatte vergessen, das zu erwähnen, was die Polizei jetzt wusste. Er hatte versagt. Als Mann, als Freund und vor allem als Mensch.
Als er nach Hause kam, zog er die Schuhe aus und hängte seine Jacke neben eine von Annie. Erst als er in der Diele am Boden zwischen all den Briefumschlägen, die vermutlich Rechnungen enthielten, einen Zettel entdeckte, begann er sich Gedanken über die Frau zu machen, die ihm im Treppenhaus begegnet und mit gesenktem Blick die Treppe hinuntergeeilt war. Mit dem Zettel in der Hand ging er rasch ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und schaute auf die Straße, aber die Frau war weg. Er las noch mal die mit schnörkeliger Handschrift geschriebene Nachricht.
«Annie ist nicht aus freien Stücken weg.
Misstrauen Sie der Polizei.
Suchen Sie Sonja auf.
Sie sind allein.
Sissi»
Max überlegte. Wer war Sissi? Und wer war diese Sonja, die er aufsuchen sollte? Doch dann begriff er: Es musste sich um zwei der Frauen handeln, über die Annie geschrieben hatte. Er ging ins Schlafzimmer, zog die beiden obersten Schreibtischschubladen heraus und leerte ihren Inhalt auf das Bett. Mappen. Zettel mit Notizen. Auf der Schreibmaschine getippte Artikelentwürfe. Telefonnummern. Kay Orha. Marcus, der Fotograf. Auszüge aus dem Personenregister der Meldebehörde. Fotos von Frauen, die dem Aussehen nach die Prostituierten von dem Interview sein konnten. Zeitungsausschnitte mit Fotos von ernsten Männern in dunklen Anzügen. Zwei Abschriften von Interviews, eines mit Sissi und eines mit Sonja.
Max brauchte fast vier Stunden, um das alles zu lesen und zu sortieren. Die Fragen häuften sich. Die Polizei glaubte, dass Max etwas verschwieg, und wartete nur darauf, dass er einen Fehler machte. Solange sie glaubte, dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, würde sie sich nicht anstrengen, um den wirklichen Grund für Annies Verschwinden herauszufinden. Sie würde ihm nicht helfen. Patrik würde alle Unterlagen durchgehen, die er in der Kungliga Biblioteket bekommen hatte. Max musste sich an jemand anders wenden, um Antworten zu erhalten. Er musste so vorgehen wie Annie. Er musste mit den Frauen auf dem Strich reden. Er musste Sonja finden.
6
In Johan Droths Wohnung saßen Jonsson, Olofsson, Theorin, Hellsten, Buster und Droth selbst im Konferenzraum. Der Tisch war oval. Der offene Kamin in der Ecke verströmte Wärme. Die Stimmung war schlecht. Schon als die Männer die Papiere zurechtrückten, die vor ihnen lagen, wussten sie alle, was für ein Meeting es werden würde.
In der Nacht war Johan Droth von einem wirren Traum geweckt worden, der so realistisch gewesen war, dass er sich die Hände auf der Toilette mit kochend heißem Wasser abgespült hatte. Dann hatte er sie ins Licht gehalten, um sich zu vergewissern, dass es verschwunden war. Das Blut, das an seinen Händen klebte. Sein Gewissen machte ihm nachts zu schaffen. Vermutlich lag das an dem Krebs, der ihn von innen auffraß wie einen fauligen Apfel. Sein Gewissen, das er fast dreißig Jahre lang betäubt hatte und das von dem toten Gewebe Nahrung erhielt, das der Krebs zurückließ, war ihm auf den Fersen. Er war schweißgebadet erwacht, schwitzte morgens immer noch und wechselte bereits vor dem Meeting das Hemd. Als er die Besprechung eröffnete, war er gedanklich immer noch in dem Traum, und erst beim letzten, dem 18 . Punkt der Tagesordnung, «Tätigkeitsfeld USA », gelang es ihm, ihn zu verdrängen und so energisch aufzutreten wie der Chef, der er war.
«Aufgrund der momentanen Lage habe ich beschlossen, in Bezug auf die USA einige Umstrukturierungen vorzunehmen.» Er ließ seinen Blick auf Buster ruhen, der von seinen Papieren aufsah. «Da die Fusion von Scansteel und der
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