Korrupt (German Edition)
sich mit einer unerwarteten Situation konfrontiert, die auf einen plötzlichen Todesfall zurückzuführen war. Dabei war es allerdings nie um seinen kleinen Bruder gegangen, aber er hatte keine Veranlassung, sich jetzt anders zu verhalten als sonst. Er hatte etliche Freunde verloren und war dadurch gezwungen worden, gewisse Richtlinien zu entwerfen, nach denen vorzugehen war. Er trommelte kurz mit den Fingern auf den Tisch und griff wieder zum Hörer.
«Avram, hörst du mich?»
«Sag, was ich tun soll.»
«Eine oder mehrere Personen sind noch im Haus.» Vitomir spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss. «Eine von ihnen ist an Rankos Tod mitschuldig. Töte alle. Alle. Geh kein Risiko ein. Und sorg dafür, dass niemand in einem offenen Sarg beigesetzt werden kann. Bring Ranko zum Hausarzt, wenn du fertig bist. Wir sehen uns dort.»
Avram gab Djordje eine Uzi aus dem Kofferraum. «Vitomir sagt, kein Risiko eingehen.»
Sie durchsuchten das Untergeschoss. Auf dem Küchentisch stand Essen. In einem kleinen Zimmer neben dem Esszimmer stand ein Fernseher. Die Glut im offenen Kamin spendete immer noch Wärme. Sie hörten nichts als den Wind, das Knacken in den Wänden und das Ticken der Küchenuhr. Wer sich außer ihnen noch im Haus befand, rührte sich nicht.
«Ich hab oben was gesehen», flüsterte Avram und ging Richtung Treppe. «Er hat uns sicher schon gehört. Sobald sich etwas regt, schießt du. Bloß kein Risiko eingehen. Er hatte viel Zeit, sich vorzubereiten, falls er bewaffnet ist.»
Sie schlichen die Treppe hinauf, und Avram zielte mit seiner Waffe über Djordjes Kopf hinweg, bis sie in der Diele im Obergeschoss standen. Im schwachen Licht der Wandlampen erkannten sie eine etliche Zentimeter breite, dunkelbraun rötliche Spur auf dem Teppich, die unter einer Tür verschwand. Avram befühlte sie mit einem Finger, den er dann Djordje hinhielt.
«Frisches Blut.» Er fuhr mit der Hand über den Teppich, hielt inne und hob etwas auf. «Und ein ausgeschlagener Zahn. Hier wurde gekämpft.»
Avram deutete auf die Tür. Djordje ging an ihr vorbei, während sich Avram an die Wand lehnte und bis drei zählte. Dann drückte er die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Schweigend hielten sie inne. Avram schaute in das Zimmer. Leer. Die feuchte Blutspur verlief über die Bohlen auf eine Regalwand zu und nahm dort ein jähes Ende. Avram und Djordje traten gleichzeitig ins Zimmer. Eine Weile starrten sie auf das Regal. Avram spähte durch das Fenster nach draußen, wo Ranko immer noch lag.
«Es war dieses Fenster», sagte er. «Jemand hat sich hier bewegt.»
«Jetzt scheint er aber nicht mehr da zu sein», erwiderte Djordje. «Vielleicht ist er durch eine Hintertür entkommen.»
Avram schrie: «Scheiße!»
Vitomir würde ihn mit bloßen Händen erwürgen, wenn der Schuldige entkam. Er hätte einfach nicht erwähnen dürfen, dass er noch jemanden gesehen hatte. Nichts von dem hier hätte geschehen dürfen. Er musste unbedingt noch eine Leiche vorweisen können.
9
Annies Atemzüge hallten in ihrem Kopf wider. Sie öffnete das linke Auge. Das rechte blieb geschlossen. Die Reibung von Augenlid und Auge klang wie Schmirgelpapier auf Holz. Sie versuchte vergebens, den rechten Arm zu bewegen. Die Kälte des Fußbodens durchdrang ihren Körper. Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Max war nicht mehr da. Vielleicht lag er aber auch so, dass sie ihn nicht sehen konnte. Vielleicht war er auch gar nicht da gewesen. Etwas weiter entfernt stand ein Mann, den Rücken ihr zugewandt. Er schien eine Waffe in der Hand zu halten, die gegen die Wand gerichtet war. Sein Kopf war von Licht umgeben, und Annie dachte, dass er vor einem kleinen Fenster stand, durch das Licht einfiel. Er war einer der beiden Männer. Sie hatte ihre Gesichter nicht gesehen, aber gemerkt, dass es zwei waren. Sie versuchte, Max’ Namen zu sagen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen. Sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, aber ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen. Was tun Sie mit uns und unserem Kind?, wollte sie schreien. Ihr Schweigen kam ihr wie Verrat vor, schlimmer als der Tod. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite. Sie hörte Geräusche, die nicht von dem Mann an der Wand stammten, sah aber niemanden. Einen halben Meter von ihrem Kopf entfernt stand eine Bierdose. Die Männer hatten nach Bier gestunken. Sie hätte gerne die Dose gepackt, sie zu einem Messer geformt und es beiden Männern in die
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