Korsar meiner Träume
sterben? Ist das der Preis, den wir werden zahlen müssen?«
Er machte sich ein wenig von ihr los und schaute ihr tief in die Augen.
»Wir haben schon genug gezahlt, Claire.«
Sie stellten die dritte Truhe neben die beiden anderen. Nate fiel in den Sand, die Beine weit gespreizt und einen Arm zum Schutz vor der Sonne über die Augen gelegt. Der Schweiß tropfte ihm von den Schläfen. Der Schnitt, den er sich an den Felsen geholt hatte, pochte, aber er spürte kein klebriges Rinnsal mehr an seiner Wange.
»Ich wünschte, ich hätte ein Fass voll Wasser«, murmelte er mit einer Kehle, die ebenso trocken war wie der Sand unter seinem Rücken und auch ebenso heiß.
»Ich werde dir welches holen.«
Nate setzte sich auf.
»Ich habe das nicht gesagt, damit du mich bedienst.«
»Ich weiß.« Sie zuckte mit den Achseln, dann schaute sie Richtung Horizont.
»Ich brauche ein wenig Zeit für mich.«
»Ich bin gar nicht so durstig«, antwortete er.
Ihr Blick schweifte zu ihm herüber. Er hatte ihre Augen schon träumerisch vor Verlangen gesehen und auch vor Zorn funkelnd. Er hatte gesehen, wie sie zu Stahl wurden, wenn sie zu etwas fest entschlossen war. Aber er hatte sie niemals so trostlos gesehen wie in diesem Moment.
»Bleib.« Er kniete sich vor die Truhen und zog sein Messer hervor.
»Lass uns nachsehen, was da drin ist.«
Claire schüttelte den Kopf.
»Ich werde ins Lager gehen. Du kannst mir später erzählen, was du gefunden hast.«
Sie ging fort, ihr Kopf und ihre Schultern hingen mutlos herab. Nate schmiss sein Messer in den Sand.
Zur Hölle.
Sie war immer gern allein gewesen und hatte die Einsamkeit oft sogar gesucht. Sie hatte Nate in dem Glauben am Strand zurückgelassen, dass sie ein wenig Zeit für sich brauchte; aber als sie brütend neben den kalten, schwarzen Kohlen des Feuers der vergangenen Nacht saß, da wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte. Sie wollte nicht über ihren Vater nachdenken, darüber, wie er alleine in diese Höhle gelangt war. Hatte er gelitten? War er ertrunken? Wie lange war er dort gewesen? Hatte er in seinen letzten Augenblicken an sie gedacht?
»Hast du es je bedauert, dass du mich verlassen hast?«, fragte sie laut.
Oh, wie sehr sie doch Antworten auf diese Fragen haben wollte, wie sehr sie sie brauchte.
Claire stocherte mit einem Stock in der Asche, den sie daneben gefunden hatte. Staub wirbelte von den Holzkohleresten auf. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
»Niemals wiedergesehen zu werden«, sagte sie.
Claire ließ den Stock fallen und weinte um das, was verloren und geopfert worden war. Als die Tränen ungehemmt flossen, kramte sie in ihren Erinnerungen, guten wie schlechten. Die erste Puppe, die der Vater ihr geschenkt hatte, die Spaziergänge, die sie zu dritt unternommen hatten, das Geschichtenerzählen, während sie warm und sicher in ihrem Bett gelegen hatte.
Claire dachte an die Krankheit, die den Körper ihrer Mutter erst geschwächt hatte, bevor sie ihr endgültig das Leben raubte. An die letzten Worte, die er zu Claire gesagt hatte, bevor er auf Schatzsuche ging. Sie dachte daran, wie sie heute die Kette gefunden hatte, und daran, was von den Überresten ihres Vaters noch übrig war.
Claire wischte sich die Wangen ab und wünschte, sie könnte den Schmerz in ihrem Herzen ebenso leicht wegwischen. Dort wo Zorn gewesen war, war nun nur noch Kummer. In den Gebeten, die sie auswendig aufsagte, in denen sie darum bat, dass ihr Vater an der Seite ihrer Mutter Frieden finden möge, lag auch Endgültigkeit.
Und Einsamkeit.
Claire rappelte sich auf.
»Ich bin es so verdammt leid, alleine zu sein.«
Auch wenn die Vögel, die auf ihren Ästen zwitscherten, Claire daran erinnerten, dass es rings um sie herum lebte, war es doch keine gefiederte Gesellschaft, die sie suchte. Sie konnte aus den fröhlich gefärbten Papageien oder den gurrenden Tauben keine Kraft schöpfen. Die Tiere konnten sie nicht im Arm halten und ihr, und sei es auch nur heute, wo sich die Welt völlig leer anfühlte, etwas Lebendiges und Natürliches geben, an dem sie sich festhalten konnte.
Sie sah den Trampelpfad hinab, den sie gemacht hatten, der sich durch hängende Kletterpflanzen und schwingende Blätter wob, und spürte einen heftigen Ruck tief unten in ihrem Bauch. Nate. Es war ein gefährliches Gelände, auf das sie sich begab, wenn man ihre gemeinsame Vergangenheit bedachte, aber es war genau diese Vergangenheit, die Claire davon abhielt, den Gedanken gleich
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