Korvals Nemesis (German Edition)
falsch herum durch Opas optisches Teleskop schauen würde.
Er hatte sich beherrscht, sodass er nicht losrennen musste. Er hatte lange genug nur so dagestanden, dass der Junge ihn gefragt hatte: »Irgendwas zum Zurückschicken? Was zum Rauchen oder …«
Aber sosehr Yulie auch das Gefühl hatte, dass ihm der Atem ausging, sosehr er auch gespürt hatte, wie seine Hände taub wurden und seine Augen nach einem Ausweg suchten, trotz alledem hatte er es geschafft, eine angemessene und sichere Antwort herauszubringen: »Wir rauchen hier nicht, Junge, und wollen es auch nicht. Ich habe was für deine Mühe und auch etwas für Miss Audrey.«
Für Miss Audrey hatte er Würzkräuter gefunden, frisch gepflückt. Sie wären bei Rollies nächster Reise in die Stadt gegangen, also warum auch nicht gleich jetzt, und dann hatte er zwei der schönsten Knollenfrüchte gewählt, die er seit Langem gesehen hatte – ein Mahl oder zwei für den Jungen und seine Familie. Dann hatte er ihm alles gegeben.
»Für deine Mühe«, hatte er gesagt. »Geh jetzt besser!«
Der Junge hörte die Warnung, griff das Angebotene und verschwand. Yulie schaffte es, den Brief und den Bericht nach innen zu bringen, torkelte gegen die Tür, griff wild nach dem Tisch, vertrieb die Katzen, vertrieb seine Gedanken; die Panik war so böse angestiegen …
Und dann hatte er ihr eine Richtung gegeben, war aus der Tür gestürzt, hatte sich die Schulter am Türrahmen gestoßen und an der Tür, war schneller geworden, rannte über das, was Opa eine Lichtung genannt hatte, und hektisch weiter über die kleinen Bohnenfelder und die Blaufrüchte, ohne an ihren Wert zu denken, Hauptsache, es ging nur fort von hier, nur rennen, nur …
Er war so weit gerannt, dass er beinahe von dem Kliff gestürzt war, dass sie World’s End nannten, obgleich es nicht das Ende der Welt war, aber ein Kliff hundert Mal höher als er selbst, der erste Platz, den die Minenfirma mit ihren Maschinen freigeräumt hatte, um die kleinen Adern von Timonium aus dem Gemisch aus Felsen und anderen Metallen freizulegen.
Unten war der plötzlich sehr verheißungsvolle Anblick von aufgerissenem Stein, Sand und einer Reihe von verschnörkelten, seichten Wasserflüssen zu erkennen. Die Farben des Landes, auf dem er zitternd hockte, waren das Dunkelgrün und Gelb des Grases und Strohs sowie die dunklen Flecken gefallener Blätter. Unten war der schattige Fels und das Wasser, das die Farbe der Abhänge trug – und sonst nichts, eine Narbe, die seit einem Jahrhundert und länger nicht geheilt worden war.
Er hatte gestoppt, schwitzend, kaum in der Lage, Luft zu holen, kaum nachdenkend, und stellte sich die Frage, ob jetzt möglicherweise seine Zeit gekommen war – aber nein, nein, das ging nicht. Die Nüsse mussten geerntet werden, und die … und … aber was sollte er tun? Rollie hatte die Ernte immer die Straße hinuntergebracht, seit Mutter gegangen war, und Rollie hatte immer …
Tot. Rollie war tot. Er hatte all ihr Geld genommen und es ausgegeben – in einem Bordell, ohne es ihm zu sagen! –, nun war er tot und Staub.
Wut dann. Ein schwarzes Blatt wirbelte in den Abgrund, und er hatte unsicher einen Stein hinterhergetreten, war in seiner atemlosen Schwäche beinahe abgerutscht, und dann stieg wieder die Angst in ihm auf, und nun war er voller Furcht vor dem Ende der Welt und um sich selbst.
Er war wieder gerannt, so gut es eben ging, und in seinem Hinterkopf erinnerte er sich an das alte Kinderspiel, bei dem sie »viertausend große Schritte vom Haus bis zum Ende der Welt« gezählt hatten. Sein Rennen war manchmal nicht mehr als ein unkontrolliertes Stolpern in die richtige Richtung, bei dem er Kratzer und Beulen einsammelte, bei dem er Angst vor dem Himmel fühlte, Angst vor der Straße, sich fühlte, als könne er nicht atmen, wusste , dass er nicht atmen konnte. Er riss seine Ärmel auf, als er ins Haus torkelte, und schaffte es kaum, die Tür zu schließen, schaute dabei dreimal hinter sich.
Es dauerte drei Tage, bis er es wieder schaffte, nach draußen zu gehen, zwei davon lag er eingerollt im Bett, starrte, dachte, ließ sich durch unmögliche Dinge und kleine Geräusche zu Tode erschrecken, in sinnloser Panik, die bei geschlossenen Augen schlimmer wurde als bei offenen. In jener ersten Nacht hatte nur Nugget, die sehr dünne und alte Katze, bei ihm geschlafen, das nicht richtig, sondern eher dagesessen am Fußende des Bettes, mit großen, besorgten Augen und ohne jedes Schnurren.
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